Januar

Hinweisschild Pronto Socorso

Möglicherweise enttäusche ich jetzt.

Mein erster Italienbericht kommt aus Deutschland. Warum? Weil wir mal wieder über die Alpen gefahren sind, hin zur zurückgelassenen Familie, zu den Freunden und all den Ärzten, mit denen wir ein appuntamento haben, damit sie uns anzapfen und abklopfen können.

Ist der italienische Wohnsitz kein Erstwohnsitz, also nur ein seconda casa, dann gibt es  keine Residenza und somit auch keine Tessera sanitaria, kein Versicherungskärtchen. Da wir diese Vorraussetzungen alle erfüllen, bleibt uns nur die Gesundheitskarte aus Deutschland, die wir, laut EU-Richtlinien einsetzen könnten. Dazu braucht es Arzttermine, die in der Regel nicht zeitnah zu den Beschwerden vergeben werden, und hat man einen, hat der Arzt möglicherweise keine Lust auf den bürokratischen Aufwand, oder keine Ahnung vom Procedere.

Das ist der Moment, in dem die Bedeutsamkeit von Beziehungen, also conoscenze, offenkundig wird.

Da sind die Dottoressa in der Nachbarschaft, die landhausbesitzenden Ärzte aus Deutschland und selbst der Geometra, der sich einst um die Wiederherstellung unseres Rustico gekümmert hatte, verfügt über Kontakte, die der körperlichen Wiederherstellung dienlich sein können.

Liegt etwas Akutes vor, weil man von der Leiter gefallen ist, die Hand in die Kreissäge kam oder das Herz mit Stillstand droht, dann ist das Pronto soccorso zuständig, die Notfallaufnahme in jedem Krankenhaus. Pronto ist mit schnell zu übersetzen, was relativ sein kann und die Wartezeit Stunden in Anspruch nimmt. Dann hat man in der Regel die Farbe Grün bekommen. Orange und insbesondere Rot haben den Vortritt. Eine umgekehrte Ampelsituation, der Verletzungsgrad bestimmt den Rang. Das ganze ist GRATIS und ich frage mich immer, beim Anblick der überfüllten Warteräume, wie das mit der Finanzierung hinhaut.

Auch wenn ich nicht den Großteil meines Lebens in Italien verbracht habe, so hoffe ich doch, dass sich die hiesige hohe Lebenserwartung mit einem brauchbaren Prozentsatz noch niederschlagen kann. Die Marken stehen diesbezüglich in der Statistik ganz weit oben …

 

++++

Frühlingserwachen mit Tulpen

Heute habe ich Tulpen gekauft. Nicht, um dem mehrwöchigen Grau in Deutschland einen stimmungsaufhellenden Farbtupfer zu verpassen, nein, um der guten Stimmung noch eins draufzusetzen … Ich bin zurück in Italien!

Schon beim Discounter bemerke ich die Entschleunigung. Die Kassiererin hat nicht schon das Wechselgeld in der Hand, bevor ich überhaupt alles im Einkaufswagen habe. Die Kollegin in Deutschland möchte nicht, dass ich nach Kleingeld suche, sie will, dass ich an ihrer Quote mitarbeite und offensichtlich verhält sich ein Großteil der Kundschaft kooperativ.

Ich verliere diese geforderte Schnelligkeit nach einer gewissen Abwesenheit, was sich auch beim Verkehrsverhalten niederschlägt. Genau genommen müssten ich und mein Auto in gewissen Abständen in ein Großstadttrainingslager mit Zusatzstunden für den Feierabendverkehr, insbesondere bei Dunkelheit und regennasser Fahrbahn.

Aber jetzt bin ich erst einmal wieder hier, die Tulpen liegen in Zeitungspapier eingewickelt auf dem Beifahrersitz und ich rolle entschleunigt unter einem stahlblauen Himmel durch eine Hügellandschaft, die im Januar durchaus frühlingshafte Spuren aufweisen kann.

++++

Ich bekam ein Buch geschenkt.

ERKLÄR MIR ITALIEN!

Ein Gemeinschaftswerk von Roberto Saviano und Giovanni di Lorenzo mit dem Untertitel:

Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?

 

Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich die Gebrauchsanweisung zu dieser aufgeworfenen Frage möchte. Möchte gar nicht aufgelistet bekommen, was alles zur Verzweiflung treiben kann. Mir reicht, was ich ohne Lektüre schon weiß, bzw. erleben darf.

 

Es gibt aber auch Momente, wo ich anerkennend mit dem Kopf nicke. Wo ich das Gefühl habe, da läuft etwas reibungs- und diskussionslos ab. Wie zum Beispiel das Rauchverbot. Das liegt zwar schon ein paar Jahre zurück, und entgegen meiner Befürchtungen wurden die Italiener mit ihrem beispiellosen, korrekten Verhalten sogar Vorreiter in Europa. Von heute auf morgen hingen die Verbotsschilder in allen betroffenen Örtlichkeiten und die Italiener, obwohl eher untypisch, hielten sich daran.

Seit dem 1. Januar nicke ich wieder anerkennend mit dem Kopf.

Die Plastiktüten in den Supermärkten sind per Gesetz biodegradabile e compostibile. Ob ich Gemüse oder Obst eintüte, das neue Material ist kompostierbar und braucht nicht mehr die zehn bis zwanzig Jahre, bis es verrottet ist. 1 Cent wird mir pro Tüte berechnet, da muss ich gar nicht drüber nachdenken, auch wenn andere Gedanken die Runde machen, ob sich da nicht wieder eine Vetternwirtschaft dahinter verbirgt. Für mich zählt der Nutzen für die Umwelt und … ich muss nie mehr Tüten für den umido- organico, den kompostierbaren Hausmüll kaufen!

Ist das jetzt eine Win-Win-Win-Situation?

++++

 

 

 

Februar

Heute habe ich mit meinen Enkelkindern geskypt. Ein Wikinger, ein Einhorn und eine Fee drängten sich auf unserem Bildschirm. Karneval am Rhein.
Als sie ihre Jutetaschen holten, um uns die Ausbeute vom Rosenmontagszug in die Kamera zu halten, sahen wir keinen Wikinger, kein Einhorn und auch keine Fee mehr. Sie verschwanden hinter prallgefüllten umweltfreundlichen Beuteln und ich fragte mich, ob die Freude über ein paar schwer ergatterte Bonbons nicht größer gewesen wäre.
Ich persönlich gehöre zu den Schunkelverweigerern. Brauche keine Tollität, die der fünften Jahreszeit vorsteht, ich versuche das ganze Jahr über ohne Pappnase lustig zu sein.
Hier in Italien mache ich eine Ausnahme. Wenn ich gerade im Lande bin, gehe ich gerne zu den dörflichen “sfilate di carnevale”. Es ist ein sympathisches Treiben ganz ohne Alkohol, aber dafür mit jeder Menge Konfetti, das die verkleideten Kinder immer wieder vom Boden aufkratzen und den Umzugswagen hinterherwerfen. Die werden von mächtigen Traktoren gezogen und weil die Zahl so übersichtlich ist, sind mehrere Dorfrunden eingeplant.
Spuren von Konfetti finde ich lange nach Aschermittwoch noch im Auto, in den Schuhen, in der Handtasche, in der Kapuze vom Mantel, in …

++++

Die Osterglocken haben ihren diesjährigen Auftritt schon so gut wie hinter sich. Hier in Italien blühen sie niemals zeitnah zur Eiersuche, können ihrem Namen also keine Ehre machen. Auf italienisch heißen sie TROMBONE, mit “Posaune” zu übersetzen, was immer sie auch rausposaunen mögen …

++++

Ich schaute mir gerade „Wunderschön – Süditalien“ aus der Mediathek an. Die Moderatorin saß mir in kurzen Ärmeln gegenüber und stieß den Satz „Italia che bella!“ aus.
Sie liebe dieses Land, … das blaue Meer, die kleinen Buchten, die luftigen Kleider, … endlich mal das stickige Zeug vom Leib!
Ich trage heute Stickiges und das werde ich auch noch die nächsten Wochen tun, denn auch in Italien gibt es einen Winter. Ein Winter, dem der Italiener nicht gerne mit Wärme trotzt. Ich friere in der Bar, in manchem Ristorante, im Wartezimmer des Zahnarztes, im Kino, im Theater, beim Töpferkurs, in Hotels und bei einigen italienischen Freunden, wenn sie zu dieser Jahreszeit zum Abendessen laden. Dann trage ich schon mal Skiunterwäsche …

++++

Im ganzen Haus riecht es nach Orangen.
Ich habe Marmelade gekocht. Marmeladekochen gehört zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Im Winter sind die Orangen dran. Die kaufe ich beim „Sizilianer“, wenn montags im Dorf Markt ist. “Non trattate” steht auf der handgeschriebenen Pappe. Die Orangen sind unbehandelt und schmecken wunderbar. Wir essen sie roh, sie kommen in den Salat, es gibt Vorspeisen und Hauptgerichte, in denen sie eine Rolle spielen und ich zaubere Nachtische. Wenn sich der „Sizilianer“ Anfang April von mir verabschiedet, macht mich das ein bisschen traurig. Aber auch nur ein bisschen, denn dann kommt der Frühling …

++++

Heute gingen siebzehn Minuten von dreißig in den italienischen Nachrichten ans Wetter.
Es hat geschneit.
In Rom waren es zehn Zentimeter, die für den Ausnahmezustand reichten. Der öffentliche Verkehr brach zusammen, teilweise blieben die Geschäfte geschlossen, die Kinder hatten schulfrei und wer konnte, fuhr im Circus Maximus Schlitten. Eine Armada von Reportern kämpfte sich durchs Chaos, befragte frierende Menschen an den Bushaltestellen, Schnee schippende Ladenbesitzer, städtische Skilangläufer und interviewte schlechtgelaunte Autofahrer beim Anlegen der Schneeketten, wobei dem Gesagten nicht immer zu folgen war, wegen der Montageanleitung zwischen den Zähnen.
Unsere Nachbarn traf ich im Garten. Sie spielten mit ihren Kindern im Schnee. Keine Schule, kein Kindergarten und auch der Papa, der in einer „Carrozzeria“ arbeitet, blieb zu Hause. Der wird danach Überstunden machen müssen, nicht wegen der Abwesenheit aufgrund höherer Gewalt, sondern wegen all der Blechschäden, die die ungewohnten Straßenverhältnisse mit sich bringen.
Unsere Katze will nicht mehr raus. Ein Rotkehlchen hüpft völlig entspannt auf unserer schneefreien Terrasse. Ich habe Nüsse kleingehackt. Es soll ihm gut gehen …

++++

Ich habe eine Maus gekauft. Eine Spielmaus für die Katze. Seit die Landschaft unter Schnee begraben liegt, möchte sie nicht mehr raus. Unsere Katze mag keine Veränderungen. Schon gar nicht solch allumfassenden.
Mittlerweile langweilt sie sich im häuslichen Schutzraum. Wenn sie nicht auf meinem Schoß lungert, krallt sie sich in den leinenen Vorhängen fest. Die Maus ist ein voller Erfolg. Schoß und Vorhänge wurden entlastet.
Ich hätte auch ein Modell „Vogel“ bekommen können. Das hat mir etwas Entrüstung entlockt. Die Kaufentscheidung „Maus“ macht mir gerade ein schlechtes Gewissen …

++++

Drei Tage später …
Die Maus wurde fachgerecht zerlegt. Ich bin froh, dass die Schneeschmelze massiv eingesetzt hat! Die Katze auch …

März

Sorry, gerade abwesend!

++++

 

Der Schacht auf dem Foto ist ein Beispiel. Mein Mann hat für mehrere solcher Schächte auf dem Grundstück gesorgt.

Unsere Außenbeleuchtung ist ausgefallen. Das Haus lag im Dunkeln, als wir aus Deutschland wiederkehrten. Und nun tappt mein Mann im Dunkeln, wo denn der Fehler liegt. Grund ist auf jeden Fall die Wasser (Schneeschmelze, gefühlter Dauerregen), das hat die Verteilerdosen in den pozzetti geflutet. Aber welche?

Wir hätten auch auf totalen Stromausfall tippen können, denn bei uns kommt generell nicht die Strommenge an, die ankommen sollte. Das macht uns manchmal das Leben schwer. In zwei Photovoltaikanlagen und in eine Wärmepumpe haben wir investiert. Ist die Spannung im Netz zu schwach, schalten sich unsere stromproduzierenden Anlagen ab. Die schalten sich aber auch ab, wenn die Leitungen überlastet sind, weil in der Nachbarschaft zu wenig konsumiert wird. Dann ruft mein Mann mich an die Haushaltsgeräte. Waschmaschine, Spülmaschine, Bügeleisen, Backofen …

Heute Abend werde ich den Backofen allerdings anmelden müssen, damit ich die Lasagne für la cena reinschieben kann. Dafür muss die Wärmepumpe aus und die Bang&Olufsen darf keinen Ton mehr von sich geben. Während wir die Lasagne essen, dürfen wir wieder Musik hören …

++++

Heute bekam ich zum Frühlingsanfang eine WhatsApp aus Deutschland …

Bildergebnis für Ich bin absolut gegen Gewalt an Frauen aber Frau Holle bekommt bald eine aufs Maul

Hier in Italien schneit es zwar nicht (zumindest nicht bei uns in den Marken), aber die Temperaturen kann man ” im Keller” bezeichnen und der Regen dürfte auch mal nachlassen!

++++

Heute morgen hätte ich dann doch gerne die Adresse von Frau Holle …

 

 

 

 

++++

In Italien suchen die Kinder keine Ostereier. Das liegt vielleicht an den übergroßen Exemplaren, die ganz leicht zu finden wären und sich somit das Verstecken gar nicht lohnt. Das Riesen-Ei ist innen hohl und bietet Platz für eine kleine Überraschung, von dem so manches Kinderherz noch gar nicht wusste, dass es dafür schlagen sollte.

 

 

„Colomba pasquale“ heißt der Osterkuchen in Form einer Taube. Schmeckt wie der „Panettone“ zu Weihnachten, was an den identischen Zutaten liegt. Es ist also die Form, die den Unterschied macht. Wir könnten unserem Christstollen Ohren verpassen …

 

++++

MAMA WINDEL!

Ich muss mich diesem gejammerten Wunsch widersetzen – ich bin die angereiste Oma, und die hat sich angeboten, eine Woche den Alltag mit drei Kleinkindern zu übernehmen, weil der Papa zur Arbeit muss und die Mama ihre Prüfungen fürs zweite Staatsexamen in Jura ablegt. Die Kita lässt nur bis 9.00 Uhr ein, und das sind Vorgaben, die ich (nicht ganz uneigennützig) einhalten möchte.
Mit dem Weckerklingeln gegen 7.00 Uhr öffnet sich ein großzügiges Zeitfenster, welches ausreichen sollte, die drei aus den Schlafanzügen zu bekommen, Straßenkleidung anzulegen, bei der kleinen Mia die Windel zu wechseln, ein gemeinsames Frühstück einzunehmen, Zähne zu putzen, klebrige Münder abzuwischen und Schuhe und Jacken anzuziehen.
Aber da ist eine Hundertschaft von Comicfiguren die meine Pläne durchkreuzen, und gehörig am Zeitfenster rütteln.
Fuchs und Löwe auf der Wegwerfwindel fangen damit an. Ich entnehme den Lauten Fus und Löe den Auftrag, die beiden erst einmal zu zeigen, während ich wie ein Löwe brülle, und mir vornehme, im Laufe des Tages zu googeln, welche Töne Füchse von sich geben. Ganz schnell ziehe ich über mein vollbrachtes Werk den Body, auf dem sich im Brustbereich ein Kätzchen zwischen zwei Herzen tummelt.
Kasse, sagt die kleine Mia, und zeigt mit ihren kleinen, dicken Fingern drauf. Miau, rufe ich, und streife einen roten Nickipullover drüber.
KASSE!!
Der Nickipullover wird hochgeschoben und das Kätzchen freigelegt. Ich mache mit einer Hose weiter.
Bume!
Wo ist eine Blume?

Mia weiß das, und zeigt auf den Knopf. Blume und Kätzchen muss ich nun dauerbewundern, was mir mit dem Wunsch nach „Budda“ gelingt abzubrechen. Budda ist Brot, und Essen zieht immer. Ich ziehe ihr ein Lätzchen an.
Nein. Dodo an!

Ich frage Lena nach Dodo, die mit fünf Jahren ganz große Schwester ist, aber immer noch in ihrem Schlafanzug steckt. Wir suchen gemeinsam nach Dodo, einem Lätzchen in Form einer japanischen Comicfigur.
Ich wähne Klein-Mia zufrieden, sie aber schreit Anpanman, bevor ich dem vierjährigen Tobi erklären kann, dass man Mitte September keine kurzen Hosen mehr anzieht. Ehe der sich dagegen wehrt, erklärt er mir, dass Mia den Anpanman-Teller haben möchte, ein Plastikteil mit aufgedrucktem Kinderhelden aus Japan. Das Brot liegt schon demonstrativ auf der Tischplatte, der falsche Teller auf dem Boden.

Lena ist inzwischen nackt und räumt eine Kommodenschublade aus, damit sie sich aus dem Sortiment, was sich über das helle Laminat verteilt, was Passendes aussuchen kann. Zur Hello-Kitty Unterwäsche sucht sie die Socken, die scheinen aber in der Wäsche, was sie nicht tröstet. Ich biete ihr Socken mit der Maus an, dazu gäbe es auch ein Longsleeve-Shirt , was wir gemeinsam suchen, während Mia nach Milch schreit und Tobi heult, weil er seine Jacke nicht findet, die mit dem Plastikmonster am Reißverschluss. Er ist weiterhin in kurzen Hosen und denkt auch nicht daran zu wechseln, weil da Krokodile drauf sind und die beißen das Monster vom Reißverschluss. Ich ziehe ihm eine lange Hose über die Kurze, weil die Krokodile sich verstecken müssen, falls das Monster auch mal die Krokodile beißen will. Mia bekommt Milch von mir, allerdings reihe ich fünf Becher mit den unterschiedlichsten Motiven vor ihr auf, damit ich gleich den richtigen auffülle. Sie wählt den mit dem Frosch, auf den aber erhebt Tobi brüllend Besitzanspruch, den ich aber mit der zwischenzeitlich gefundenen Monster-Reißverschlußjacke beruhigen kann. Das Zeitfenster hat beachtlich an Größe verloren, dafür hat Lena ein Kleid gefunden, womit die Sockenfrage geklärt wäre, allerdings noch eine Strumpfhose aufgetrieben werden muss. Das Suchen muss ich Lena überlassen, weil Tobi jetzt ein Frischkäsebrot mit Himbeermarmelade verlangt. Auch hier möchte ich bei der Tellerwahl nicht scheitern, der verfügbare Stapel scheint mir aber doch zu hoch, um eine Auswahl auf den Tisch zu bringen. Prinzessinnen, Tigerente, Frosch, Kleiner Bär, ganz viel Japanisches, Punkte und Blumen. Er möchte den Frosch, was mir einen kleinen Adrenalinstoß verpasst, weil der Froschbecher doch schon in fremden Händen ist. So schütte ich wortlos Milch in ein Glas mit blauen Punkten. Es geht!
Lena kommt mit der Strumpfhose, die sie nicht alleine anziehen kann, und während ich Bein für Bein zusammenraffe, damit der Kinderfuß flugs einsteigen kann, erklärt sie mir, dass sie kein Brot, sondern Haferflocken mit Joghurt möchte. Das Schalensortiment schlägt die Tellerauswahl um Längen und ich befürchte zusätzlich einen Nachahmeeffekt.

Mehr…! Schon schiebt die kleine Mia ihren Teller von sich und besteht ebenfalls auf Haferflocken. Durchs Zeitfenster fällt nur noch ein Hoffnungsschimmer.
Ich greife durch. Alleine schon der bebilderten Besteckauswahl wegen. Lena bekommt ein Butterbrot in die Hand und Milch aus einem Glas mit grünen Punkten. Ich erfahre schreiend, dass die grünen Punkte Tobi gehören, dabei belasse ich es aber. Es geht jetzt um Schuhe und Jacken, und zwar schnell und meinerseits kampflos. So läuft Mia mit den zu klein gewordenen Sommersandalen los, Tobi besteht auf eine viel zu dünne Regenjacke und Lena nimmt die schmutzige Lieblingsjacke aus dem Wäschekorb.
Die Haare sind nicht gekämmt, die Zähne nicht geputzt, ich hatte kein Frühstück, aber Gott sei Dank noch Tempos in der Tasche, um die klebrigen Münder abzuwischen, bevor ich auf die Klingel am großen Tor drücke und um Einlass bitte. Es ist eine Minute vor neun. Wir sind noch nicht zu spät!

RHABARBERKUCHENWETTER

Der zusammengeknüllte Brief ließ sich nicht mehr so einfach in Stücke reißen, obwohl ihr danach war. Sie hätte überhaupt alles kurz und klein schlagen können, trotz der Junisonne, die nach tagelangem Dauerregen endlich einmal wieder Licht und Schatten in die kleine Küche zauberte. Dieser Scheißkerl (sie nannte ihn seit gut fünf Jahren nur noch Scheißkerl) hatte es mal wieder geschafft, die Unterhaltszahlungen zu kappen. Dieser Scheißkerl hatte mal wieder am Stöpsel gezogen. Sie rutschte mit dem Rücken an der Küchenfront entlang nach unten und war fast dankbar für den Schmerz, den die kantigen Metallgriffe in zwei langgezogenen Spuren hinterließen. Wie einen Schneeball drückte sie das Papier weiter zusammen und schleuderte es durch die offene Tür, die in den lichtlosen, winzigen Flur führte. Das Geschoss traf Mia mitten ins Gesicht, die in diesem Moment mit holprigen Schritten um die Ecke wackelte.

„Mama, … Ball!“ Wenn Mia lachte, sah man ihre unordentlichen Zahnreihen, und die eng zusammenliegenden Augen verschwanden hinter zwei Schlitzen.

„Ein Chromosom zu viel, und auch mir würde alles am Arsch vorbeigehen!“ Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, krabbelte auf Mia zu, zog sie zu sich in den Schneidersitz und tauchte die Nase in ihre dunklen, störrischen Haare. Liebesschnüffeln. Ihr Liebe zu diesem Kind fing an zu wachsen, als die zu ihrer großen Liebe schwand. Die große Liebe machte sich aus dem Staub. Ein Chromosom zu viel war ihm zu viel, als man sie im Krankenhaus über Trisomie 21 aufklärte.

Heute morgen auch noch der Anruf ihrer Mutter! Es klang, als lese sie den Text vom Blatt, ohne einmal Luft zu holen. Es sei Rhabarberkuchenwetter, ob sie nicht mit der Kleinen vorbeikommen wolle. Die Kleine hat einen Namen, und überhaupt, nach fünf Jahren ohne jeglichen Kontakt einfach zum Kaffeetrinken einladen, als hätten alle gerade die paar grauen Regentage überstanden, und nun wolle man gemeinsam die wiederkehrende Sonne genießen! Mia ist fünf Jahre ohne Großeltern ausgekommen. Sie kennt noch nicht einmal ihren Vater! Wenn man etwas nicht kennt, kann man es auch nicht vermissen. Ist wie mit dem Rauchen. Hätten die Indianer Käfer geknabbert, anstatt an Friedenspfeifen zu ziehen, stünde ich nicht zehnmal täglich rauchend und mit schlechtem Gewissen bei Wind und Wetter auf dem Balkon! Auf dem Balkon flatterte die Wäsche an der Leine. Sie stellte Mia wieder auf die Beine, holte sich ihre Zigaretten und den Wäschekorb und ging nach draußen. Den Rauch zog sie bis in die Sackgassen ihrer Lunge hinein. Mit dem Ausatmen ließ sie sich Zeit. Sie schaute dem Dunst hinterher, der sich hinter der Balkonbrüstung auflöste und verschwand. Sie blies einen neuen Dunststreifen in die Luft, an den sich ihr Blick und das Gedankenknäuel hängen konnten und hörte nicht, dass Mia gegen die Scheibe trommelte. Erst als sie weinte, drehte sie sich um. Die Wäsche ließ sie auf der Leine, die Balkontür schlug sie hinter sich zu, die Papierkugel warf sie in den Mülleimer, und die letzten Zigaretten hinterher.

„Mia, wir gehen Straßenbahn fahren!“

Mia saß am Fenster, schaute raus und jauchzte. Die Menschen in der Straßenbahn schauten auf Mia und blickten betroffen. Sie möchte jedes Mal in diese Gesichter schlagen, ihnen die Betroffenheit rausprügeln, Normalität verpassen. Bei ihrem Vater hatte sie das nie versucht. Den gab sie einfach auf, weil sie nicht einmal im Stande war, richtige Kinder zur Welt zu bringen. Um ihre Mutter hat sie nicht gekämpft, denn dann wäre ihr Vater ohne Schatten zurückgeblieben. Sie fuhren am Schuhhaus Wöhrl vorbei, am Eiscafe Venezia, am Reformhaus (im Fenster stand immer noch die vergilbte Pappreklame für die Gesundheitslatschen), Blume 2000, die Apotheke von Svens Vater (Sven, der ewig Klassenbeste, aber nur ein Meter fünfundsechzig und klapperdürr), die Sparkasse, der kleine Park und dann kam ihre alte Schule. Es hatte sich nicht viel verändert, alles war noch an seinem Platz, reihte sich unangetastet aneinander. Sie stieg schon an der Kirche aus, obwohl sie hätte weiterfahren können, und redete sich das schöne Wetter ein, und den Vorteil von einem bisschen frische Luft. Die würde es auch gleich im Garten geben, zum Rhabarberkuchen und zu den Eltern. Im Mund zog sich alles zusammen und rutschte bis in den Brustkorb hinein. Sie schob es auf den Gedanken an den Rhabarber. Wenn Mutter ihr damals Zucker in die kleine, meist dreckige Hand schüttete, damit sie in den Garten rennen konnte, um eine Rhabarberstange abzureißen, die sie dann Biss für Biss in den Zucker drücken würde, sprudelte es schon wie ein Springbrunnen auf dem Weg zu den großblättrigen Büscheln in ihrem Mund, und sie musste das Gesicht verziehen. Mia trödelte. Sie ließ Mia trödeln. Mia hob ein zerdrücktes Trinktütchen auf, pflückte Blüten von einem überhängenden Spierstrauch, starrte auf den Hund, der Kacka machte, schaute dem Jungen mit dem Laufrad hinterher, wollte vom Bäcker Kuchen.

„Kuchen gibt es bei Oma.“

„Oma.“

Gleich würden sie bei Oma sein. Sie nahm Mia an der schwitzigen Hand, bevor ihre Entschlossenheit sich auflöste wie Kondensstreifen am wolkenlosen Himmel. Die akkurat geschnittene Buchshecke war gewachsen, über der Klingel begrüßte noch immer eine dreiköpfige, in Ton modellierte Familie lachend den Besucher.

„Frederike … du … !“

Sie erschrak. Wie alt war Mutter geworden! Nicht nur wegen der grauen Haare.

„Ja, … ich …“

„Ich dachte du … “

„Dachte ich auch …“

Jetzt fiel ihr Blick auf Mia, die den Kopf weit nach hinten gebeugt hatte und lachte. Den Blick zu halten, fiel ihr sichtlich schwer, aber sie hielt ihn, wie bei Irene aus dem Kirchenchor, der die halbe Nase fehlte. Und doch war es anders. Sie schämte sich. Es war die Scham, fünf lange Jahre lang nicht in dieses kleine, plattgedrückte Gesicht geschaut zu haben. Mit derselben Regung versuchte sie Frederike zu umarmen, die sich in diesem Moment zu Mia beugte.

„Das ist Oma.“

„Oma hat Kuchen?“

„Aber natürlich hat Oma Kuchen!“ übereifrig drückte sich Frederikes Mutter mit einem aufgesetzten Lachen gegen die geöffnete Haustür.

„Aber kommt doch erst mal rein!“

Drinnen war es wie am Streckenabschnitt mit der Einundzwanziger Straßenbahn. Alles unverändert. Selbst der Geruch aus Möbelpolitur und Küchendünsten hatte noch keine Möglichkeit gehabt sich aufzulösen. Frederike wäre gerne umgekehrt, nicht alles von vorne, dachte sie, aber Mia war schon durch Flur und Wohnzimmer auf die Terrasse gerannt. Auf der Terrasse beschattete eine blau-weiße Markise einen gedeckten Kaffeetisch. Die Markise war neu, die Teller und Tassen bekannt.

„Für vier …? Dachtest du nicht …“

„Ich hatte es mir gewünscht … ganz stark gewünscht!“ Sie strich Mia über den Kopf und ließ ihre Hand liegen, als Frederikes Vater um die Ecke kam. Die Einmeterzweiundneunzig schienen ein bisschen gebeugt, was nicht nur an der ausgefahrenen Markise lag, die einen aufrechten Gang nicht zugelassen hätte. Niemand sprach. Nur die Vögel waren zu hören und das Flattern des blau weiß gestreiften Volants im Wind.

„Das ist Opa!“ sagte Frederikes Mutter zu Mia und irgendwie auch zu ihrem Mann. Der ging auf Frederike zu und sagte „Hallo!“

„Hallo ist ein bisschen wenig Papa, nach so langer Zeit!“

Bevor sie den Satz beendet hatte, ärgerte sie sich über den gemachten Vorwurf. Jetzt musste der Gegenschlag kommen, und dem war sie schon immer unterlegen. Aber da kam nichts. „Ein Hallo ist doch schon mal was für einen Neuanfang, meinst du nicht?“

Frederike schaute auf ihre Füße.

„Ein Neuanfang?“ Auch über diese Frage ärgerte sie sich. Warum war sie denn sonst hier? Oder doch nicht?

„Möchtest du Kaffee oder Tee?“ Frederike konnten sich nicht erinnern, dass sich ihr Vater jemals um solche Belange gekümmert hatte. Die Antwort Tee ließ auf sich warten. Ein bedrückender Moment, dem Erlösung geboten wurde, als die Eltern in die Küche eilten, um Wasser zum Kochen zu bringen, Kaffee aufzubrühen und Teebeutel in die Kanne zu hängen. Als alle am Tisch saßen, war es Mias Anwesenheit, die von all dem ablenkte, was die letzten fünf Jahre hinterlassen hatten.

„Oma heiß!“

Es wurde in den Kakao geblasen, ein Lätzchen umgebunden, der Kuchen zerkleinert und Kissen untergeschoben. Es wurde gefragt, ob es schmeckt, ob sie hoch genug sitzt, ob sie auch Sahne wolle und ob sie überhaupt schon einmal Rhabarberkuchen gegessen habe. Mia sagte immer ja, nur als Oma ihr ein zweites Stück anbieten wollte, sagte sie nein, rutschte vom Stuhl und rannte in den Garten. Frederikes Vater trank den letzten Schluck Kaffee aus, stellte die Tasse langsam und geräuschlos auf die Untertasse zurück, wischte mit der frühlingsbunten Papierserviette flüchtig über die Lippen und erhob sich von seinem Stuhl. Den schob er mit einem kurzen Zögern an den Tisch zurück.

„Ich werde mal nach ihr schauen.“

„Er leidet“, Frederikes Mutter legte ihre Hand auf die ihrer Tochter und spürte den Ansatz des Rückzugs, aber auch den Willen zu bleiben.

„Wisst ihr, wie ich leide, … wie lange ich schon leide?“

„ Dein Vater ist ein ganz anderer Mensch geworden, seit er nicht mehr im Berufsleben steht. Er bedauert sein Verhalten von damals, glaube mir!“

„Back to the roots, wo man ihm jetzt die Krone gekappt hat? Das ist mir zu einfach!“ Frederike schob ihren Teller mit dem Kuchenrest von sich weg.

„Es ist auch nicht einfach, … für ihn ist es nicht einfach, die Situation anzusprechen.“

„In seinem so erfolgreichen Berufsleben hat er doch auch alles angesprochen. Auf den Tisch hat er gehauen, Meinungen gegeigt, Bescheid gestoßen, kein Federlesen gemacht!“ „Frederike, er ist jetzt achtundsechzig, fast neunundsechzig…“

„Was willst du damit sagen, soll ich ihm einen Alterbonus einräumen? Stand mir damals wohl noch nicht zu, war offensichtlich noch zu jung!“

„Nein Frederike, ich will damit sagen, dass er seit fast vier Jahren nicht mehr auf den Tisch haut. Er kümmert sich mit Leidenschaft um den Garten und denkt dabei viel nach. Es war sein Vorschlag, dass ich mich bei dir melde. Er konnte es nicht. Er schämt sich so. Ich schäme mich auch, ich kann dir gar nicht sagen wie. Vor allem, weil ich nie die Kraft hatte, mich gegen ihn aufzulehnen.“

Es war wieder nur das Flattern des Volants der Markise, das das Schweigen vertonte. Frederike wollte auch nichts mehr sagen, wollte das bisher Gesagte so stehen lassen, selber nachdenken, auch ohne Garten. Sie würde sich Zeit dafür nehmen. In Geduld war sie gut. Sie zog ihre Hand unter der ihrer Mutter hervor, verharrte einen kurzen Moment und legte dann die ihre auf die der Mutter.

„Ich nehme die Achzehnzwanziger.“

Frederike erhob sich von ihrem Stuhl und ihre Mutter griff mit beiden Händen nach der Hand, deren Wärme sie gerade noch gespürt hatte.

„Ihr kommt doch wieder?“

Dem ängstlichen Blick wich Frederike aus und schaute in den Garten, um Mia auszumachen. Die stand mit ihrem neuen Opa hinten beim Rhabarber. Sie hatte Zucker in ihrer kleinen Hand mit den kurzen, dicken Fingern und der Opa zeigte ihr, wie man die Rhabarberstange reinstupst.

„Mia, komm Straßenbahn fahren!“, Frederike ging auf dem mit Platten belegten Gartenweg, ohne auf eine Fuge zu treten. Das hatte sie als Kind immer gemacht. Sie musste fehlerfrei die Strecke hinter sich bringen, sonst drohte ihr Schlimmes. Dazu hatte sie sich damals immer neue Grausamkeiten ausgedacht. Die mussten sich aber nie bewahrheiten, weil sie niemals Fehler machte. Wenn ich drauftrete, war mein Besuch heute umsonst!

„Bald sind die Johannisbeeren reif“, sagte ihr Vater und drehte seinen Kopf zu den Büschen mit den noch blassroten Beeren.

„Ich glaube, die schmecken Mia auch!“