Der zusammengeknüllte Brief ließ sich nicht mehr so einfach in Stücke reißen, obwohl ihr danach war. Sie hätte überhaupt alles kurz und klein schlagen können, trotz der Junisonne, die nach tagelangem Dauerregen endlich einmal wieder Licht und Schatten in die kleine Küche zauberte. Dieser Scheißkerl (sie nannte ihn seit gut fünf Jahren nur noch Scheißkerl) hatte es mal wieder geschafft, die Unterhaltszahlungen zu kappen. Dieser Scheißkerl hatte mal wieder am Stöpsel gezogen. Sie rutschte mit dem Rücken an der Küchenfront entlang nach unten und war fast dankbar für den Schmerz, den die kantigen Metallgriffe in zwei langgezogenen Spuren hinterließen. Wie einen Schneeball drückte sie das Papier weiter zusammen und schleuderte es durch die offene Tür, die in den lichtlosen, winzigen Flur führte. Das Geschoss traf Mia mitten ins Gesicht, die in diesem Moment mit holprigen Schritten um die Ecke wackelte.
„Mama, … Ball!“ Wenn Mia lachte, sah man ihre unordentlichen Zahnreihen, und die eng zusammenliegenden Augen verschwanden hinter zwei Schlitzen.
„Ein Chromosom zu viel, und auch mir würde alles am Arsch vorbeigehen!“ Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, krabbelte auf Mia zu, zog sie zu sich in den Schneidersitz und tauchte die Nase in ihre dunklen, störrischen Haare. Liebesschnüffeln. Ihr Liebe zu diesem Kind fing an zu wachsen, als die zu ihrer großen Liebe schwand. Die große Liebe machte sich aus dem Staub. Ein Chromosom zu viel war ihm zu viel, als man sie im Krankenhaus über Trisomie 21 aufklärte.
Heute morgen auch noch der Anruf ihrer Mutter! Es klang, als lese sie den Text vom Blatt, ohne einmal Luft zu holen. Es sei Rhabarberkuchenwetter, ob sie nicht mit der Kleinen vorbeikommen wolle. Die Kleine hat einen Namen, und überhaupt, nach fünf Jahren ohne jeglichen Kontakt einfach zum Kaffeetrinken einladen, als hätten alle gerade die paar grauen Regentage überstanden, und nun wolle man gemeinsam die wiederkehrende Sonne genießen! Mia ist fünf Jahre ohne Großeltern ausgekommen. Sie kennt noch nicht einmal ihren Vater! Wenn man etwas nicht kennt, kann man es auch nicht vermissen. Ist wie mit dem Rauchen. Hätten die Indianer Käfer geknabbert, anstatt an Friedenspfeifen zu ziehen, stünde ich nicht zehnmal täglich rauchend und mit schlechtem Gewissen bei Wind und Wetter auf dem Balkon! Auf dem Balkon flatterte die Wäsche an der Leine. Sie stellte Mia wieder auf die Beine, holte sich ihre Zigaretten und den Wäschekorb und ging nach draußen. Den Rauch zog sie bis in die Sackgassen ihrer Lunge hinein. Mit dem Ausatmen ließ sie sich Zeit. Sie schaute dem Dunst hinterher, der sich hinter der Balkonbrüstung auflöste und verschwand. Sie blies einen neuen Dunststreifen in die Luft, an den sich ihr Blick und das Gedankenknäuel hängen konnten und hörte nicht, dass Mia gegen die Scheibe trommelte. Erst als sie weinte, drehte sie sich um. Die Wäsche ließ sie auf der Leine, die Balkontür schlug sie hinter sich zu, die Papierkugel warf sie in den Mülleimer, und die letzten Zigaretten hinterher.
„Mia, wir gehen Straßenbahn fahren!“
Mia saß am Fenster, schaute raus und jauchzte. Die Menschen in der Straßenbahn schauten auf Mia und blickten betroffen. Sie möchte jedes Mal in diese Gesichter schlagen, ihnen die Betroffenheit rausprügeln, Normalität verpassen. Bei ihrem Vater hatte sie das nie versucht. Den gab sie einfach auf, weil sie nicht einmal im Stande war, richtige Kinder zur Welt zu bringen. Um ihre Mutter hat sie nicht gekämpft, denn dann wäre ihr Vater ohne Schatten zurückgeblieben. Sie fuhren am Schuhhaus Wöhrl vorbei, am Eiscafe Venezia, am Reformhaus (im Fenster stand immer noch die vergilbte Pappreklame für die Gesundheitslatschen), Blume 2000, die Apotheke von Svens Vater (Sven, der ewig Klassenbeste, aber nur ein Meter fünfundsechzig und klapperdürr), die Sparkasse, der kleine Park und dann kam ihre alte Schule. Es hatte sich nicht viel verändert, alles war noch an seinem Platz, reihte sich unangetastet aneinander. Sie stieg schon an der Kirche aus, obwohl sie hätte weiterfahren können, und redete sich das schöne Wetter ein, und den Vorteil von einem bisschen frische Luft. Die würde es auch gleich im Garten geben, zum Rhabarberkuchen und zu den Eltern. Im Mund zog sich alles zusammen und rutschte bis in den Brustkorb hinein. Sie schob es auf den Gedanken an den Rhabarber. Wenn Mutter ihr damals Zucker in die kleine, meist dreckige Hand schüttete, damit sie in den Garten rennen konnte, um eine Rhabarberstange abzureißen, die sie dann Biss für Biss in den Zucker drücken würde, sprudelte es schon wie ein Springbrunnen auf dem Weg zu den großblättrigen Büscheln in ihrem Mund, und sie musste das Gesicht verziehen. Mia trödelte. Sie ließ Mia trödeln. Mia hob ein zerdrücktes Trinktütchen auf, pflückte Blüten von einem überhängenden Spierstrauch, starrte auf den Hund, der Kacka machte, schaute dem Jungen mit dem Laufrad hinterher, wollte vom Bäcker Kuchen.
„Kuchen gibt es bei Oma.“
„Oma.“
Gleich würden sie bei Oma sein. Sie nahm Mia an der schwitzigen Hand, bevor ihre Entschlossenheit sich auflöste wie Kondensstreifen am wolkenlosen Himmel. Die akkurat geschnittene Buchshecke war gewachsen, über der Klingel begrüßte noch immer eine dreiköpfige, in Ton modellierte Familie lachend den Besucher.
„Frederike … du … !“
Sie erschrak. Wie alt war Mutter geworden! Nicht nur wegen der grauen Haare.
„Ja, … ich …“
„Ich dachte du … “
„Dachte ich auch …“
Jetzt fiel ihr Blick auf Mia, die den Kopf weit nach hinten gebeugt hatte und lachte. Den Blick zu halten, fiel ihr sichtlich schwer, aber sie hielt ihn, wie bei Irene aus dem Kirchenchor, der die halbe Nase fehlte. Und doch war es anders. Sie schämte sich. Es war die Scham, fünf lange Jahre lang nicht in dieses kleine, plattgedrückte Gesicht geschaut zu haben. Mit derselben Regung versuchte sie Frederike zu umarmen, die sich in diesem Moment zu Mia beugte.
„Das ist Oma.“
„Oma hat Kuchen?“
„Aber natürlich hat Oma Kuchen!“ übereifrig drückte sich Frederikes Mutter mit einem aufgesetzten Lachen gegen die geöffnete Haustür.
„Aber kommt doch erst mal rein!“
Drinnen war es wie am Streckenabschnitt mit der Einundzwanziger Straßenbahn. Alles unverändert. Selbst der Geruch aus Möbelpolitur und Küchendünsten hatte noch keine Möglichkeit gehabt sich aufzulösen. Frederike wäre gerne umgekehrt, nicht alles von vorne, dachte sie, aber Mia war schon durch Flur und Wohnzimmer auf die Terrasse gerannt. Auf der Terrasse beschattete eine blau-weiße Markise einen gedeckten Kaffeetisch. Die Markise war neu, die Teller und Tassen bekannt.
„Für vier …? Dachtest du nicht …“
„Ich hatte es mir gewünscht … ganz stark gewünscht!“ Sie strich Mia über den Kopf und ließ ihre Hand liegen, als Frederikes Vater um die Ecke kam. Die Einmeterzweiundneunzig schienen ein bisschen gebeugt, was nicht nur an der ausgefahrenen Markise lag, die einen aufrechten Gang nicht zugelassen hätte. Niemand sprach. Nur die Vögel waren zu hören und das Flattern des blau weiß gestreiften Volants im Wind.
„Das ist Opa!“ sagte Frederikes Mutter zu Mia und irgendwie auch zu ihrem Mann. Der ging auf Frederike zu und sagte „Hallo!“
„Hallo ist ein bisschen wenig Papa, nach so langer Zeit!“
Bevor sie den Satz beendet hatte, ärgerte sie sich über den gemachten Vorwurf. Jetzt musste der Gegenschlag kommen, und dem war sie schon immer unterlegen. Aber da kam nichts. „Ein Hallo ist doch schon mal was für einen Neuanfang, meinst du nicht?“
Frederike schaute auf ihre Füße.
„Ein Neuanfang?“ Auch über diese Frage ärgerte sie sich. Warum war sie denn sonst hier? Oder doch nicht?
„Möchtest du Kaffee oder Tee?“ Frederike konnten sich nicht erinnern, dass sich ihr Vater jemals um solche Belange gekümmert hatte. Die Antwort Tee ließ auf sich warten. Ein bedrückender Moment, dem Erlösung geboten wurde, als die Eltern in die Küche eilten, um Wasser zum Kochen zu bringen, Kaffee aufzubrühen und Teebeutel in die Kanne zu hängen. Als alle am Tisch saßen, war es Mias Anwesenheit, die von all dem ablenkte, was die letzten fünf Jahre hinterlassen hatten.
„Oma heiß!“
Es wurde in den Kakao geblasen, ein Lätzchen umgebunden, der Kuchen zerkleinert und Kissen untergeschoben. Es wurde gefragt, ob es schmeckt, ob sie hoch genug sitzt, ob sie auch Sahne wolle und ob sie überhaupt schon einmal Rhabarberkuchen gegessen habe. Mia sagte immer ja, nur als Oma ihr ein zweites Stück anbieten wollte, sagte sie nein, rutschte vom Stuhl und rannte in den Garten. Frederikes Vater trank den letzten Schluck Kaffee aus, stellte die Tasse langsam und geräuschlos auf die Untertasse zurück, wischte mit der frühlingsbunten Papierserviette flüchtig über die Lippen und erhob sich von seinem Stuhl. Den schob er mit einem kurzen Zögern an den Tisch zurück.
„Ich werde mal nach ihr schauen.“
„Er leidet“, Frederikes Mutter legte ihre Hand auf die ihrer Tochter und spürte den Ansatz des Rückzugs, aber auch den Willen zu bleiben.
„Wisst ihr, wie ich leide, … wie lange ich schon leide?“
„ Dein Vater ist ein ganz anderer Mensch geworden, seit er nicht mehr im Berufsleben steht. Er bedauert sein Verhalten von damals, glaube mir!“
„Back to the roots, wo man ihm jetzt die Krone gekappt hat? Das ist mir zu einfach!“ Frederike schob ihren Teller mit dem Kuchenrest von sich weg.
„Es ist auch nicht einfach, … für ihn ist es nicht einfach, die Situation anzusprechen.“
„In seinem so erfolgreichen Berufsleben hat er doch auch alles angesprochen. Auf den Tisch hat er gehauen, Meinungen gegeigt, Bescheid gestoßen, kein Federlesen gemacht!“ „Frederike, er ist jetzt achtundsechzig, fast neunundsechzig…“
„Was willst du damit sagen, soll ich ihm einen Alterbonus einräumen? Stand mir damals wohl noch nicht zu, war offensichtlich noch zu jung!“
„Nein Frederike, ich will damit sagen, dass er seit fast vier Jahren nicht mehr auf den Tisch haut. Er kümmert sich mit Leidenschaft um den Garten und denkt dabei viel nach. Es war sein Vorschlag, dass ich mich bei dir melde. Er konnte es nicht. Er schämt sich so. Ich schäme mich auch, ich kann dir gar nicht sagen wie. Vor allem, weil ich nie die Kraft hatte, mich gegen ihn aufzulehnen.“
Es war wieder nur das Flattern des Volants der Markise, das das Schweigen vertonte. Frederike wollte auch nichts mehr sagen, wollte das bisher Gesagte so stehen lassen, selber nachdenken, auch ohne Garten. Sie würde sich Zeit dafür nehmen. In Geduld war sie gut. Sie zog ihre Hand unter der ihrer Mutter hervor, verharrte einen kurzen Moment und legte dann die ihre auf die der Mutter.
„Ich nehme die Achzehnzwanziger.“
Frederike erhob sich von ihrem Stuhl und ihre Mutter griff mit beiden Händen nach der Hand, deren Wärme sie gerade noch gespürt hatte.
„Ihr kommt doch wieder?“
Dem ängstlichen Blick wich Frederike aus und schaute in den Garten, um Mia auszumachen. Die stand mit ihrem neuen Opa hinten beim Rhabarber. Sie hatte Zucker in ihrer kleinen Hand mit den kurzen, dicken Fingern und der Opa zeigte ihr, wie man die Rhabarberstange reinstupst.
„Mia, komm Straßenbahn fahren!“, Frederike ging auf dem mit Platten belegten Gartenweg, ohne auf eine Fuge zu treten. Das hatte sie als Kind immer gemacht. Sie musste fehlerfrei die Strecke hinter sich bringen, sonst drohte ihr Schlimmes. Dazu hatte sie sich damals immer neue Grausamkeiten ausgedacht. Die mussten sich aber nie bewahrheiten, weil sie niemals Fehler machte. Wenn ich drauftrete, war mein Besuch heute umsonst!
„Bald sind die Johannisbeeren reif“, sagte ihr Vater und drehte seinen Kopf zu den Büschen mit den noch blassroten Beeren.
„Ich glaube, die schmecken Mia auch!“