Am Morgen kam der Anruf vom Altenheim. Über die Feier zu Mutters Neunzigsten musste ich mir nun keine Gedanken mehr machen, jetzt ging es darum, die Beerdigung zu organisieren. Das schien mir problemloser.

Am Nachmittag erlaubte ich mir einen Spaziergang. Einen ausgedehnten. Einen vom Gartentürchen bis zum Baggersee. Meine Seelsorge-Strecke. Gute vier Stunden mit mir alleine unterwegs. 

Ich war acht, als ich anfing, mit mir alleine unterwegs zu sein. Ohne meine kleine Schwester. Die gab es nicht mehr. Sie war tot.  Überfahren von einem dunkelroten Auto an einem trägen, heißen Sommertag. 

 

Es mag an der Langeweile gelegen haben, mit der wir zu viert im Schatten des knorrigen Birnbaums auf der Wiese lungerten, die uns, auf Grashalmen kauend, über Mutproben nachdenken ließ. Solche, die nur in unseren Köpfen funktionierten. Mit dem Regenschirm vom Kirchturm springen, sich mit den Rollschuhen an den Bus hängen, der zweimal am Tag in die Stadt fuhr, eine Nacht auf dem Friedhof verbringen, der uns schon am helllichten Tag zum Gruseln brachte, oder den bösartigen Hund vom Gruber streicheln, dem es vom Herumzerren an der Kette ständig aus dem Maul tropfte. Wir lagen auf dem Rücken, das Blätterdach über uns, lachten und spuckten aus, was sich von den Grashalmen gelöst hatte. Ich zählte die blauen Himmelsschnipsel, die das Grün durchkreuzten, fragte die anderen, wie viele es wohl sein könnten und meine kleine Schwester sagte, sie könne ganz schnell über die Straße rennen, wenn ein Auto kommt. 

Es kamen nicht viele Autos in unserem verschlafenen Dorf. Die wenigsten der Bewohner besaßen eins und noch weniger sahen eine Notwendigkeit, durch unser Dorf zu fahren.

Die schlechten Voraussetzungen hielten uns nicht davon ab, die Idee gut zu finden. Auch hier mag die Langeweile eine Rolle gespielt haben. Aufgeregt rutschten wir auf unseren Hintern den Hang hinunter und landeten in der prallen Sonne am Straßenrand. Thomas, der einzige 

Junge, stand auf, schlug sich auf die Brust und beanspruchte das erste Auto für sich. Wir protestierten nicht und schauten auf den Asphalt, der ausgestorben in der Hitze flimmerte. Das taten wir ziemlich lange und irgendwann überlegten wir Mädchen, ob wir nicht besser Gummitwist spielen sollten.  

Aber dann schrie Thomas Auto und zeigte nach links, wo man bis zur Kirche sehen konnte. Blitzschnell waren wir auf den Beinen, die Köpfe einheitlich ausgerichtet und starrten auf das heranrollende Rot. Thomas brachte sich in Stellung. Ein Bein nach vorne ausgestellt, die Arme angewinkelt und mit einer Entschlossenheit im Gesicht, die uns Mädchen aufkreischen ließ. Wir hörten nicht damit auf, bis Thomas auf der anderen Straßenseite war, um dann in Jubel auszubrechen, ohne dem wütenden Hupen Beachtung zu schenken.

Thomas winkte, wir winkten zurück und dann fuchtelte er wild mit den Armen. Auto!

Diesmal aus der anderen Richtung und völlig unerwartet. Meine kleine Schwester hüpfte, jetzt komm ich … ich, ich … und dann rannte sie los. Der rechte Schuh fiel von ihrem kleinen Fuß und ich schlug die Hände vor meinen Mund. 

 

Noch heute sehe ich ihre Hand, die nach dem Schuh greift und höre das Quietschen der Reifen. Ich werde dieses Bild nicht los, so wie ich die Schuld nicht loswerde, aus der mich meine Mutter nie entlassen hat.

 

Während ich zügig auf dem Trampelpfad vorankam ‒ ich könnte ihn durchaus auch blind bewältigen ‒ und mit meinen Händen über das zu beiden Seiten hüfthohe, herbstliche Gras strich, dachte ich darüber nach, ob mit dem Tod meiner Mutter sich an meinem Leben etwas ändern würde. Zumindest müsste ich nicht mehr unter ihrem Schweigen leiden, das seit dem Zwischenfall nur von notwendigen Ansagen unterbrochen worden war. Trauer empfand ich alleine darüber, dass sie mich damals nicht hat ausreden lassen und dass das nun nicht mehr möglich war. 

 

Am See war die Sonne fast hinter den mächtigen Rotbuchen verschwunden. Mit den letzten Strahlen gelang es ihr, noch etwas Glitzer auf der kaum bewegten Wasseroberfläche zu hinterlassen. Entlang der Uferlinie setzten verwaiste Feuerstellen schwarze Punkte. Kleine, erloschen Krater, aufgeschnürt wie Perlen, wobei die herumliegenden leeren Flaschen und Dosen keinem bestimmten Muster folgten. 

Wütend über so viel Gleichgültigkeit verpasste ich der Dose vor meinen Füßen einen Tritt. Dann noch einen und noch einen und so trieb ich das blecherne Geräusch um den See herum. Mit dem letzten Tritt wollte ich mich auf den Heimweg machen, den schmalen Waldweg schon im Blick. Ich stolperte, ohne zu fallen, drehte mich kurz um und blieb wie gelähmt stehen. Verschmutze, dunkelblaue Baumwolle, ohne Schnürsenkel. Ein einzelner Schuh. Herrenlos und wie immer löste er in meinem Kopf heftige Schicksalsspekulationen aus. Unzählige solcher Fundstücke haben über die Jahre meine Aufmerksamkeit ertrotzt. So wie Schwangere ständig Schwangere sehen. Zumindest sagt man das so.

Ich war nie schwanger. Und ich war auch nie verheiratet, was natürlich nicht zwangsläufig bedeuten muss, keine Kinder zu haben. 

Was man nicht hat, kann man auch nicht verlieren. Ich habe mein ganzes Leben darauf geachtet. Schmerzliche Verluste vermeiden. Die Leerstellen füllte mein Beruf als Krankenschwester. Ärztin wäre ich gerne geworden, doch die Angst vor der Verantwortung und die vielen Möglichkeiten, Fehler zu machen, hielten mich davon ab.

Ich hob den Schuh auf. Größe neununddreißig. Meine Schwester hatte Größe sechsundzwanzig. Ich habe zweiundvierzig und fragte mich, ob meine kleine Schwester heute auch so große Füße hätte, die das Schuhekaufen nicht einfach machten.

Die Dose ließ ich liegen. Den Schuh nahm ich mit.

 

Ich habe schon viele Tote gesehen. Das bringt mein Beruf so mit sich. Das Sterben ist für mich aber nie Alltag geworden. Es berührt mich immer wieder.

Als ich meine Mutter in dem weiß ausgeschlagenen Sarg liegen sah, spürte ich gar nichts. Angst vielleicht. Angst, dass sie die Augen aufschlagen könnte. Angst, dass sich ihre Lippen bewegen, aus denen ein Mantra aus Vorwürfen sprudelt. 

Ich werde sie nicht vermissen. Meine Schwester vermisse ich bis heute. Meinen Vater, den hätte ich vertrieben. Der hielt die Trauer meiner Mutter nicht mehr aus. Auch meine Schuld. Ein Sack voller Steine, den ich hinter mir herziehe.  Wird er leichter, wenn Erde einen Hügel über der Grube bildet? 

Ich schleppte mich aus der Kapelle hinter dem Sarg her. Jeder Schritt wie Blei. Die der Trauergäste knirschten im Kies, ohne dass sich Worte einmischten. Warum bin ich überhaupt hier? Wegen Verantwortung? Moral? War es meine Pflicht? Ich tastete in meiner Handtasche nach dem Schuh. 

Das Knirschen verstummte auf dem kurzgeschnittenen Gras, dessen Grün das Dunkel der Grube noch dunkler erscheinen ließ.  Zur Rede des Pfarrers senkte sich der Sarg. Dem zitternden Blumenschmuck in Blau-Gelb folgte der dumpfe Ton der Endlichkeit.

Ich wollte nicht die Erste sein, mit der kleinen Schaufel in der Hand. Ich hatte auch keine Blume zum Hinterherwerfen. Ich blieb einfach stehen und ließ die anderen machen. Erst nachdem mir der Pfarrer sein unerlässliches Beileid ausgedrückt hatte, rückte ich zum Rand der Grube vor und zog den Schuh aus meiner Handtasche. Verschmutze, dunkelblaue Baumwolle, ohne Schnürsenkel polterte auf das Holz in der Tiefe.

Jetzt musste sie mir zuhören. 

Bis zu deinem Ende hast du deinen Schmerz gepflegt, ohne an meinen zu denken. Abgestraft hast du mich mit jedem Wort, das du nicht an mich gerichtet hast. Selbst habe ich nach Worten gesucht, die eine Erklärung hätten liefern sollen. Du wolltest sie nicht hören. Du hast mich zurückgelassen, schon lange vor deinem Tod. An das Alleinsein habe ich mich gewöhnt, dafür musstest du nicht sterben.

Als der Kies unter meinen schnellen Schritten knirschte, dachte ich, ob ich damals nicht doch hätte besser aufpassen müssen.