KOBE

Florian war ein Arsch und Kobe hat einen richtig schönen.

Florian hatte eine weiße Stretch Limousine. Kobe hatte gar nichts, nicht einmal eine Aufenthaltserlaubnis. 

Die Stretch-Limo hat sich Florian von Opas Geld gekauft. Das hatte er seinem Lieblingsenkel vererbt. Wobei die Sache mit dem Lieblings keine große Entscheidung abverlangte. Wenn es nur einen Enkel gibt, ist auch nichts da, um Vergleiche zu ziehen. Kann aber auch sein, dass Florian nur profitierte, weil der Opa dem eigenen Sohn nichts hinterlassen wollte, denn der hatte sich einen Scheiß gekümmert.

Mit der Stretch-Limo würde er jetzt das große Geld machen, hat Florian gesagt. Hochzeiten und so, und dann könnte er auch mal was zur Miete beitragen. Manchmal kam er von den Hochzeiten gar nicht mehr nach Hause und schlief in der Stretch-Limo. Wegen dem Alkohol … der kann mir viel erzählen! Und weil er immer noch mietfrei bei mir wohnte, habe ich seine gesamten Klamotten in die Scheiß-Stretch-Limo gestopft. Ob er nicht doch … Ich hatte NEIN gesagt, bevor er den Satz beenden konnte.

Das ist jetzt ein Jahr her. 

Und es ist jetzt auch schon fast ein Jahr her, dass ich nicht mehr Brettschneider mit Nachnamen heiße, sondern Obi. Über die Baumarkt-Witze rege ich mich schon lange nicht mehr auf. Dafür gibt es zu viel anderes, über das ich mich aufregen kann.

Kobe heißt Obi mit Nachnamen. Kobe habe ich im Park kennengelernt, nachdem das Schloss von meiner Wohnungstür ausgewechselt wurde und ich mir mit dem Restgeld, das mir der Schlüsseldienst in die Hand gedrückt hatte, bei McDonald’s einen Hamburger Käse Royal kaufte. Ich hatte keine Lust auf Leute und habe mich mit der Schachtel in den Park gesetzt. Es war schon dunkel, und weil ich dachte, da steht eine Tüte mit Müll, hab ich meinen gleich mit reingedrückt. Das waren aber Kobes Sachen, die in der Tüte steckten, und er lag hinter der Bank und steckte in einem stinkenden Schlafsack. Warum soll es gleich zwei Leuten scheiße gehen, habe ich mir gedacht und Kobe mit nach Hause genommen. Ich weiß, das war leichtsinnig, aber ich hatte das Gefühl, an dem Tag schon einiges richtig gemacht zu haben. 

Wir sprechen beide nicht gut Englisch. Naidschiria sagte er, und erst nachdem er es mit zittrigen Fingern aufgeschrieben hatte, wusste ich, dass er aus Nigeria kommt. No asylum. Die halbe Nacht saßen wir vor dem Computer und haben uns vom Google Übersetzer ein bisschen was über unsere Leben ausspucken lassen. Das war nicht immer zum Lachen, aber wir haben trotzdem viel gelacht. Kobe hat blitzweiße Zähne. Wenn er nicht so eine dunkle Haut hätte, wäre er der Kandidat für Zahnpastawerbung.

Zahnpasta und Bürste habe ich ihm dann gegeben. Ich war hundemüde, musste am nächsten Tag ja wieder um halb sieben raus. Kobe weinte mit der Zahnpasta und der Bürste in der Hand. Don’t cry, habe ich ihm gesagt, everything ok. Dann habe ich ihm ein Kissen und eine Decke aufs Sofa gelegt, und er hat noch mehr geheult. Ohne sich zu schämen. Ich glaube, das Schämen war ihm unterwegs irgendwo abhandengekommen. 

Das mit dem Weinen ging noch ein paar Tage so, wurde aber immer weniger. Er war dann mehr damit beschäftigt, sich in meiner Wohnung unsichtbar zu machen. Tagsüber war dem Sofa überhaupt nicht anzusehen, dass nachts jemand drauf geschlafen hatte. Ich wollte aber nicht, dass er sich eines Tages wirklich auflöst, und weil ich keine anderen Heiratspläne hatte, habe ich Kobe geheiratet, damit er in Deutschland bleiben kann. Habe einfach JA gesagt. Er hat mich mit seinen dunklen Händen an den Unterarmen gepackt und mehrfach thank you geheult. Mir war das peinlich, auch weil ich an Marmorkuchen denken musste, als ich seine Schokoladenhände auf meiner hellen Haut sah.

Für die Hochzeitsfeier habe ich all mein Erspartes zusammengekratzt. Die sollte echt aussehen, nicht einfach mal schnell in Jeans zum Standesamt. 

Die Einladungen habe ich auf schwarzem Conqueror Hammerschlag/ 300 Gramm mit Goldbuchstaben drucken lassen. Der Mercedes unter den Papiersorten, hat mir der Freund von Heiko gesagt. Heiko ist ein Kollege aus der Anzeigenabteilung. Sein Freund arbeitet in einer Druckerei, der hat mir den Mercedes zum Sonderpreis gelassen. 

Ich fand das sehr nobel von Heiko, dass er mir diese Connection verschafft hat. Heiko war immer hinter mir her. Aber Heiko ist rothaarig und wird im Sommer nie braun. Ich sagte ihm, dass wir schon farblich nicht zusammenpassen. Einen Kommentar zu Kobe konnte er sich nicht verkneifen. 

Achtunddreißig Gäste haben mit uns in der Linde fast bis zum Sonnenaufgang gefeiert. Die Stimmung war mega, und irgendwann hatte ich sogar vergessen, um was es geht. 

Kobes Anzug hat mich am nächsten Tag auf dem Weg zum Klo daran erinnert. Der schwarze Zweiteiler hing ordentlich auf dem Kleiderbügel an der Garderobe im Flur. Kobe lag auf dem Sofa. 

Kobe lag jede Nacht auf dem Sofa, und Kobe kochte für mich Ikokore aus Süßkartoffeln und Fisch. Zum Deutschunterricht ging er von Montag bis Freitag und brachte immer neue Wörter mit nach Hause. Kobe lernt schnell.

ZUGEHÖRIGKEIT. Ich fand das total süß, wie er das aussprach. 

Ich gehöre zu dir, sagte Kobe, und dass er mich liebe. 

Das war so nicht ausgemacht. Das habe ich ihm gesagt.

Von da an fühlte ich mich fast ein bisschen unsicher in meiner eigenen Wohnung. Nicht, dass ich Angst hatte, Kobe könnte über mich herfallen … in mir drinnen war irgendwie alles durcheinandergeraten. Ich schaute Kobe nicht mehr nur bewundernd auf seine schönen weißen Zähne. Kobe hat auch lange Wimpern und muskulöse Arme. Ich schaute heimlich auf seinen Hintern, wenn er den Tisch abräumte und mit dem Geschirr zur Spüle ging. 

Einmal habe ich meinen Arm um seine Schultern gelegt, als wir zusammen auf dem Sofa saßen und im Fernsehen die überfüllten Flüchtlingsboote im Mittelmeer auf dem bewegten Wasser schaukelten. So ähnlich muss sich ein Stromschlag anfühlen. Ich bin an der Stromquelle einfach kleben geblieben, und es hat von Kopf bis Fuß gekribbelt. Seitdem schlief ich nicht mehr gut.

Neuerdings schlafe ich wunderbar. Neben Kobe, und der hält mich in seinen dunklen, muskulösen Armen. In die habe ich mich vor ein paar Wochen geworfen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Wir haben uns tatsächlich die Kleider vom Leib gerissen, an so was habe ich nie geglaubt. Dachte, das gibt es nur im Film oder in Büchern. Ich musste auch nicht mehr an Marmorkuchen denken, ich war fast ohnmächtig, und als ich wieder klar denken konnte, lagen wir wie zwei Schachfiguren auf meinem abgelaufenen Teppichboden.

Für morgen haben wir wieder in die Linde eingeladen. Achtunddreißig Gästen werden wir sagen, dass wir mit ihnen unsere Liebe feiern wollen, denn die fehlte beim ersten Mal. Bei der Druckvorlage für die Einladung habe ich nur das Datum ändern lassen. Conqueror Hammerschlag/ 300 Gramm, das ist es mir immer noch wert, und sogar noch viel mehr.

GRÖSSE SECHSUNDZWANZIG

Am Morgen kam der Anruf vom Altenheim. Über die Feier zu Mutters Neunzigsten musste ich mir nun keine Gedanken mehr machen, jetzt ging es darum, die Beerdigung zu organisieren. Das schien mir problemloser.

Am Nachmittag erlaubte ich mir einen Spaziergang. Einen ausgedehnten. Einen vom Gartentürchen bis zum Baggersee. Meine Seelsorge-Strecke. Gute vier Stunden mit mir alleine unterwegs. 

Ich war acht, als ich anfing, mit mir alleine unterwegs zu sein. Ohne meine kleine Schwester. Die gab es nicht mehr. Sie war tot.  Überfahren von einem dunkelroten Auto an einem trägen, heißen Sommertag. 

 

Es mag an der Langeweile gelegen haben, mit der wir zu viert im Schatten des knorrigen Birnbaums auf der Wiese lungerten, die uns, auf Grashalmen kauend, über Mutproben nachdenken ließ. Solche, die nur in unseren Köpfen funktionierten. Mit dem Regenschirm vom Kirchturm springen, sich mit den Rollschuhen an den Bus hängen, der zweimal am Tag in die Stadt fuhr, eine Nacht auf dem Friedhof verbringen, der uns schon am helllichten Tag zum Gruseln brachte, oder den bösartigen Hund vom Gruber streicheln, dem es vom Herumzerren an der Kette ständig aus dem Maul tropfte. Wir lagen auf dem Rücken, das Blätterdach über uns, lachten und spuckten aus, was sich von den Grashalmen gelöst hatte. Ich zählte die blauen Himmelsschnipsel, die das Grün durchkreuzten, fragte die anderen, wie viele es wohl sein könnten und meine kleine Schwester sagte, sie könne ganz schnell über die Straße rennen, wenn ein Auto kommt. 

Es kamen nicht viele Autos in unserem verschlafenen Dorf. Die wenigsten der Bewohner besaßen eins und noch weniger sahen eine Notwendigkeit, durch unser Dorf zu fahren.

Die schlechten Voraussetzungen hielten uns nicht davon ab, die Idee gut zu finden. Auch hier mag die Langeweile eine Rolle gespielt haben. Aufgeregt rutschten wir auf unseren Hintern den Hang hinunter und landeten in der prallen Sonne am Straßenrand. Thomas, der einzige 

Junge, stand auf, schlug sich auf die Brust und beanspruchte das erste Auto für sich. Wir protestierten nicht und schauten auf den Asphalt, der ausgestorben in der Hitze flimmerte. Das taten wir ziemlich lange und irgendwann überlegten wir Mädchen, ob wir nicht besser Gummitwist spielen sollten.  

Aber dann schrie Thomas Auto und zeigte nach links, wo man bis zur Kirche sehen konnte. Blitzschnell waren wir auf den Beinen, die Köpfe einheitlich ausgerichtet und starrten auf das heranrollende Rot. Thomas brachte sich in Stellung. Ein Bein nach vorne ausgestellt, die Arme angewinkelt und mit einer Entschlossenheit im Gesicht, die uns Mädchen aufkreischen ließ. Wir hörten nicht damit auf, bis Thomas auf der anderen Straßenseite war, um dann in Jubel auszubrechen, ohne dem wütenden Hupen Beachtung zu schenken.

Thomas winkte, wir winkten zurück und dann fuchtelte er wild mit den Armen. Auto!

Diesmal aus der anderen Richtung und völlig unerwartet. Meine kleine Schwester hüpfte, jetzt komm ich … ich, ich … und dann rannte sie los. Der rechte Schuh fiel von ihrem kleinen Fuß und ich schlug die Hände vor meinen Mund. 

 

Noch heute sehe ich ihre Hand, die nach dem Schuh greift und höre das Quietschen der Reifen. Ich werde dieses Bild nicht los, so wie ich die Schuld nicht loswerde, aus der mich meine Mutter nie entlassen hat.

 

Während ich zügig auf dem Trampelpfad vorankam ‒ ich könnte ihn durchaus auch blind bewältigen ‒ und mit meinen Händen über das zu beiden Seiten hüfthohe, herbstliche Gras strich, dachte ich darüber nach, ob mit dem Tod meiner Mutter sich an meinem Leben etwas ändern würde. Zumindest müsste ich nicht mehr unter ihrem Schweigen leiden, das seit dem Zwischenfall nur von notwendigen Ansagen unterbrochen worden war. Trauer empfand ich alleine darüber, dass sie mich damals nicht hat ausreden lassen und dass das nun nicht mehr möglich war. 

 

Am See war die Sonne fast hinter den mächtigen Rotbuchen verschwunden. Mit den letzten Strahlen gelang es ihr, noch etwas Glitzer auf der kaum bewegten Wasseroberfläche zu hinterlassen. Entlang der Uferlinie setzten verwaiste Feuerstellen schwarze Punkte. Kleine, erloschen Krater, aufgeschnürt wie Perlen, wobei die herumliegenden leeren Flaschen und Dosen keinem bestimmten Muster folgten. 

Wütend über so viel Gleichgültigkeit verpasste ich der Dose vor meinen Füßen einen Tritt. Dann noch einen und noch einen und so trieb ich das blecherne Geräusch um den See herum. Mit dem letzten Tritt wollte ich mich auf den Heimweg machen, den schmalen Waldweg schon im Blick. Ich stolperte, ohne zu fallen, drehte mich kurz um und blieb wie gelähmt stehen. Verschmutze, dunkelblaue Baumwolle, ohne Schnürsenkel. Ein einzelner Schuh. Herrenlos und wie immer löste er in meinem Kopf heftige Schicksalsspekulationen aus. Unzählige solcher Fundstücke haben über die Jahre meine Aufmerksamkeit ertrotzt. So wie Schwangere ständig Schwangere sehen. Zumindest sagt man das so.

Ich war nie schwanger. Und ich war auch nie verheiratet, was natürlich nicht zwangsläufig bedeuten muss, keine Kinder zu haben. 

Was man nicht hat, kann man auch nicht verlieren. Ich habe mein ganzes Leben darauf geachtet. Schmerzliche Verluste vermeiden. Die Leerstellen füllte mein Beruf als Krankenschwester. Ärztin wäre ich gerne geworden, doch die Angst vor der Verantwortung und die vielen Möglichkeiten, Fehler zu machen, hielten mich davon ab.

Ich hob den Schuh auf. Größe neununddreißig. Meine Schwester hatte Größe sechsundzwanzig. Ich habe zweiundvierzig und fragte mich, ob meine kleine Schwester heute auch so große Füße hätte, die das Schuhekaufen nicht einfach machten.

Die Dose ließ ich liegen. Den Schuh nahm ich mit.

 

Ich habe schon viele Tote gesehen. Das bringt mein Beruf so mit sich. Das Sterben ist für mich aber nie Alltag geworden. Es berührt mich immer wieder.

Als ich meine Mutter in dem weiß ausgeschlagenen Sarg liegen sah, spürte ich gar nichts. Angst vielleicht. Angst, dass sie die Augen aufschlagen könnte. Angst, dass sich ihre Lippen bewegen, aus denen ein Mantra aus Vorwürfen sprudelt. 

Ich werde sie nicht vermissen. Meine Schwester vermisse ich bis heute. Meinen Vater, den hätte ich vertrieben. Der hielt die Trauer meiner Mutter nicht mehr aus. Auch meine Schuld. Ein Sack voller Steine, den ich hinter mir herziehe.  Wird er leichter, wenn Erde einen Hügel über der Grube bildet? 

Ich schleppte mich aus der Kapelle hinter dem Sarg her. Jeder Schritt wie Blei. Die der Trauergäste knirschten im Kies, ohne dass sich Worte einmischten. Warum bin ich überhaupt hier? Wegen Verantwortung? Moral? War es meine Pflicht? Ich tastete in meiner Handtasche nach dem Schuh. 

Das Knirschen verstummte auf dem kurzgeschnittenen Gras, dessen Grün das Dunkel der Grube noch dunkler erscheinen ließ.  Zur Rede des Pfarrers senkte sich der Sarg. Dem zitternden Blumenschmuck in Blau-Gelb folgte der dumpfe Ton der Endlichkeit.

Ich wollte nicht die Erste sein, mit der kleinen Schaufel in der Hand. Ich hatte auch keine Blume zum Hinterherwerfen. Ich blieb einfach stehen und ließ die anderen machen. Erst nachdem mir der Pfarrer sein unerlässliches Beileid ausgedrückt hatte, rückte ich zum Rand der Grube vor und zog den Schuh aus meiner Handtasche. Verschmutze, dunkelblaue Baumwolle, ohne Schnürsenkel polterte auf das Holz in der Tiefe.

Jetzt musste sie mir zuhören. 

Bis zu deinem Ende hast du deinen Schmerz gepflegt, ohne an meinen zu denken. Abgestraft hast du mich mit jedem Wort, das du nicht an mich gerichtet hast. Selbst habe ich nach Worten gesucht, die eine Erklärung hätten liefern sollen. Du wolltest sie nicht hören. Du hast mich zurückgelassen, schon lange vor deinem Tod. An das Alleinsein habe ich mich gewöhnt, dafür musstest du nicht sterben.

Als der Kies unter meinen schnellen Schritten knirschte, dachte ich, ob ich damals nicht doch hätte besser aufpassen müssen.

 

 

KATERSTIMMUNG

Haben die denn immer noch nicht auf dem Schirm, dass wir Katzen Gewohnheitstiere sind? Haben die in all den Jahren noch nicht bemerkt, wie stressanfällig ich bin? Jetzt steht dieser dämliche Baum mitten auf meinem Weg zum Sofa, nachdem er zwei Wochen auf der Terrasse lag. Dort hat er mich auch schon gestört, aber hier drinnen stört er mich mega. Ich brauche meine festgelegten Routen, aber Robert und Birgit brauchen offensichtlich einen Weihnachtsbaum.  An den hängen sie jetzt rote und goldene Kugeln und fuchteln immer wieder mit einer vor meinem Gesicht herum. Was soll das? Wollen die mich ärgern oder glauben sie, mich bespaßen zu müssen? Ich bleibe mal ganz bewusst teilnahmslos auf dem Sofa liegen, dieses jährlich wiederkehrende Affentheater geht mir sowas von auf die Nerven! Die Wiener Sängerknaben rauf und runter, ein Stück Wald auf dem Parkett und ein Weihnachtsmann aus Holz, der raucht. Im Wohnzimmer raucht er und er raucht Kette. Warum geht der nicht mit Robert auf die Terrasse zum Rauchen?  Tanne, Weihrauch, Sandel oder Myrrhe fragt Birgit jedes Mal, wenn kein Rauch mehr aus dem roten Fettsack rauskommt. Wenn Robert dann Myrrhe sagt, ist das ein massiver Angriff auf meine Geruchsnerven. Was hat er denn, unser Moritz fragen sie dann (muss man mir ansehen) und kraulen mir zwischen den Ohren auf dem Kopf herum. 

Momentan wird Tanne vom Glühweingeruch überlagert und der mischt sich mit der Gans, die seit heute Morgen im Ofen liegt. Wegen der Niedrigtemperaturmethode. Sieben Stunden bei achtzig Grad! Darüber haben sie gestern fast genauso lange diskutiert. Hauptsache ich bekomme die Leber von dem Vogel! Tradition ist Tradition und die sollte bei der Leber nicht vernachlässigt werden.

Das ist doch Feuer!  Die beiden sollten das im Griff haben … ah, ist nur der Zuckerhut, der brennt. Alle Jahre wieder … Liegt quer über dem Topf mit dem Glühwein. Der Rum, den Robert ständig draufkippt, soll wohl als Brandbeschleuniger fungieren. Birgit ist das zu viel vom Vierundfünfzigprozentigen. Der Zucker müsse komplett verschwunden sein, meint Robert. Das ist jetzt der Fall, … aber auch die Hälfte vom Inhalt der Rumflasche ist verschwunden. Das Zeug scheint ihnen zu schmecken. Ist mir fast peinlich, wie sie rumgickeln und die Lichterkette an den Baum fummeln.

Überraschung! 

Muss sie dabei so schreien?  Sind das nicht Hühnerfedern? Natürlich sind das Hühnerfedern, die Birgit dem Engel in den Rücken steckt. Der ist neu, den kenne ich nicht. Aha, soll auf der Baumspitze thronen … ist zu hoch. Wenn das mal gutgeht mit dem umgedrehten Papierkorb auf dem Hocker! Ach du scheiße … so, das habe ich mir gedacht, … jetzt liegen sie beide neben der Tanne! Und was gibt es dabei zu lachen? Ich könnte lachen, so blöd wie Robert sich anstellt, um sich auf seine Birgit zu wälzen. 

Du bist mein Engel …

Hoffentlich rammt er ihr keine Hühnerfedern in den Rücken!

Unser Moritz guckt so traurig …

Euer Moritz guckt besorgt, weil die sieben Stunden Niedrigtemperatur schon abgelaufen sind!

Der wird sich bald gaaaanz doll freuen! Diese kleine, süße Maus ist mit Baldrianwurzel und Dinkelspelz gefüllt. Baldrian soll den Spieltrieb anregen und mit dem Baldrianspray können wir sein altes Spielzeug besprühen, das macht ihn dann ganz scharf … auf sein Spielzeug natürlich!

Leute, ich bin auf die Leber scharf! Kommt mal wieder auf die Beine und kümmert euch ums Wesentliche! Damit meinte ich jetzt nicht die Feuerzangenbowle … hallo!!

Ich bin auch ganz scharf …

Robert … doch nicht vor Moritz!

Den lenken wir mal kurz ab …

Ahhiii … ja, spinnt der denn? Hat der Trottel denn ne Vorstellung, wie das Zeug in den Augen brennt? Das gibt eine Anzeige beim Tierschutzverein! Eine volle Ladung Baldrianspray mitten ins Gesicht!  Meinen Spieltrieb wollen sie wecken? Können sie haben. Nur ein Sprung … und ich pflücke euch den dusseligen Engel von der Baumspitze!

 

SÖREN

 

Marlene hatte neunundzwanzig Gäste eingeladen. Mit ihr waren es dann so viele, wie Kerzen auf der Torte, die Klara für sie gebacken hatte. So was machen beste Freundinnen. Die trösten nicht nur bei Liebeskummer. Wäre Toben noch an ihrer Seite, hätte sie eine Einladung weniger verschicken müssen. Pro Lebensjahr ein Gast. Eine Regel aus Kinderzeiten.Von der wollte sie sich nicht verabschieden.

Toben hatte sich verabschiedet. Der schlingt seit einem halben Jahr seine starken Arme, die so unerwartet zärtlich sein konnten, um eine Sarah. An dem Tag, als Toben seine letzten Sachen abholte, hatte Marlene Hagali zertrümmert. Hagali von Ikea war das erste Möbelstück ihrer ersten gemeinsamen Wohnung. 140×200. Die richtigen Maße für gewünschte Nähe.

Seitdem schläft Marlene auf der Matratze. Bei gleichbleibender Liegefläche, aber ohne Nähe. Die Freunde hatten zusammengelegt. Ein Gutschein vom schwedischen Möbelhaus. Damit würde sie zehnmal das Modell Hagali bekommen, aber es sollte diesmal etwas Besseres sein, meinten die Freunde. Etwas für die Zukunft, damit sie die Vergangenheit endlich hinter sich lassen könnte.

Innerhalb von drei Jahren musste der Gutschein eingelöst werden. Es drängte also kein Verfalldatum und Marlene konnte sich weiter der Trauer widmen. Es war Klara, die drängte, und weil Marlene dem ein Ende setzen wollte, tat sie ihr den Gefallen und fuhr an einem freien Donnerstag zu Ikea. Bis sie zu den Betten kam, musste sie den Pfeilen auf dem Boden folgen. Dabei kam sie an etlichen Wohnzimmern, Küchen und Esszimmern vorbei. Lauter kleine heile Welten, die sich glückliche Menschen nach Hause holen konnten. Marlene war nicht glücklich, und als sie endlich bei den Betten angelangt war, suchte sie nach Hagali, um ihren Schmerz noch etwas zu vertiefen. Der wurde dann unerträglich, als sie erfahren musste, dass das Modell aus dem Programm genommen worden war. Sie stolperte an Nordli, Säbovik, Lauvik und Tarva vorbei und blieb bei Dunvik stehen. Ein graues Bett in einem konsequent grau gehaltenen Musterschlafzimmer. Wände, Fußboden, Schrank, Fußbank, Vorhänge, Bettwäsche und die Attrappe einer Zimmertür. Alles grau. Mag sein, dass es die passende Farbe zur Stimmung war, die Marlene die Hemmung nahm, sich in dieses Bett zu legen. Ausgestreckt lag sie auf dem Rücken. Sie wählte die rechte Seite. Tobens Seite. Aus den geschlossenen Augen lösten sich Tränen. Über die Schläfen suchten sie sich ihren Weg, um schließlich in einer Bettwäsche zu versickern, die ihr nicht gehörte.

Sie traute sich nicht die Augen zu öffnen, als sie spürte, dass sich jemand neben sie gelegt hatte.

»Ich bin Sören.«, sagte eine männliche Stimme. Marlene drehte ihren Kopf nach links.

»Ich könnte mir vorstellen, hier unsere Hochzeitsnacht zu verbringen.«

Wir gelähmt lag Marlene neben dem fremden Mann. Hagali und Toben waren nicht mehr in ihrem Kopf, dafür machte sich Panik breit. Mag sein, dass die dafür verantwortlich war, wie gelähmt liegen zu bleiben. Vielleicht aber auch dieses Lächeln, das so gar nichts Bedrohliches hatte.

»Was meinst du?«

Marlene schloss die Augen für einen kurzen Moment. Es blieb dabei. Da lag weiterhin dieser Sören an ihrer Seite. Sie sprang auf, schlug mit der Handtasche in die Kuhle, die sie hinterlassen hatte, und schrie, ob er nicht alle Tassen im Schrank habe. Normalerweise wäre ihr ein besserer Spruch eingefallen, und sie ärgerte sich darüber. Auf die wegweisenden Pfeile achtete sie nicht mehr, als sie das Möbelhaus fluchtartig verließ.

Klara wollte nur wissen, wie dieser Sören aussah.

»George Clooney in Jung, also ich wäre liegengeblieben!«

Marlene aber lag weiter auf ihrer Matratze. An Toben dachte sie nicht mehr, dafür an Sören.  Trotz der fehlenden Tassen im Schrank.

Sie träumte von ihm, sie wachte mit Gedanken an ihn auf, sie nahm ihn mit zur Arbeit und wieder nach Hause, sie joggte mit ihm durch den Park und nahm ihn abends mit ins Bett.

»Du warst zur rechten Zeit am rechten Ort …«, schimpfte Klara, woraufhin sich Marlene eine Woche Urlaub nahm, das bunte Sommerkleid anzog, das sie bei der Bettensuche getragen hatte, und sich auf den Weg zum rechten Ort machte. Das tat sie zwei Tage lang, saß auf der grauen Fußbank und wartete. Den verbleibenden Tagen wollte sie keine Hoffnung mehr einräumen. Mit hängendem Kopf und im bunten Sommerkleid und nur, weil Klara aufs Durchhalten bestand, schleppte sie sich an Tag drei abermals ins schwedische Möbelhaus. Um die Mittagszeit hatte sie endgültig keine Lust mehr, aber Hunger. Sie ging ins zugehörige Restaurant, wo die Gerichte ähnlich klangen wie die Möbel. Grönsaksbullar sagte sie so lange tonlos vor sich her, bis sie an der Reihe war. Ganz kurz schaute sie auf und dann war alles weg. Sie hätte Gemüsebällchen sagen können, aber auch das ging nicht mehr, denn hinter der Theke stand der Mann, für den sie das bunte Sommerkleid trug.

»Ich meinte das ernst«, sagte er mit dem Lächeln, das sich in Marlenes Träumen festgesetzt hatte. Mit zwei Portionen Grönsaksbullar und schwedischem Bier suchten sie sich einen Tisch, wo sie ungestört sein konnten. Marlene zitterte und Sören trug das Tablett. Die ersten Grönsaksbullar rollten ihr von der Gabel. Sören stand auf, nahm ihren Kopf in die Hände und küsste sie auf den Mund. Das dauerte ziemlich lange, danach sagte er, es kurz machen zu wollen, und Marlene erfuhr, dass er Maximilian hieß, Maximilian Seidel und der Küchenchef vom Möbelhaus war.

Es dauerte ein knappes Jahr, da wurde aus Marlene Krüger eine Marlene Seidel. Es kamen viele Gäste, die Anzahl hätte man nicht als Kerzen auf der dreistöckigen Hochzeitstorte unterbringen können, die Klara gebacken hatte. Und so fiel es auch gar nicht auf, als zur späten Stunde Maximilian Marlene bei der Hand nahm und sie nach draußen auf die Straße zog. Dort wartete ein Taxi. Das brachte sie zum Ikeahaus, das angestrahlt blau und gelb im Gewerbegebiet lag. Beim Wareneingang trug Maximilian Marlene durch eine kleine, unverschlossene Tür über die Schwelle. Marlene lachte und Maximilian musste sie ständig küssen wegen des Lärms, der sie verraten hätte. Er kannte sich aus. Marlene eilte ihm hinterher, den Rock vom weißen Brautkleid mit beiden Händen angehoben. Dunvik befand sich noch immer im grauen Musterzimmer, nur die Bettwäsche war eine andere. Maximilian hob Marlene hoch und legte sie wie etwas leicht Zerbrechliches genau an der Stelle ab, wo er sie vor einem guten Jahr gefunden hatte.

»Du hast nicht alle Tassen im Schrank«, sagte Marlene.

»Da hast du vollkommen recht, dafür aber Gläser und eine Flasche Champagner!« Die holte er aus dem grauen Kleiderschrank und ließ den Korken knallen.

»Auf uns …!«

»So, jetzt ist gut Maximilian, mehr war nicht abgemacht!«

Security konnte Marlene auf dem Rücken seiner Uniform lesen, als er sich umdrehte und davonging.

 

 

 

 

 

 

 

 

MAMA WINDEL!

Ich muss mich diesem gejammerten Wunsch widersetzen – ich bin die angereiste Oma, und die hat sich angeboten, eine Woche den Alltag mit drei Kleinkindern zu übernehmen, weil der Papa zur Arbeit muss und die Mama ihre Prüfungen fürs zweite Staatsexamen in Jura ablegt. Die Kita lässt nur bis 9.00 Uhr ein, und das sind Vorgaben, die ich (nicht ganz uneigennützig) einhalten möchte.
Mit dem Weckerklingeln gegen 7.00 Uhr öffnet sich ein großzügiges Zeitfenster, welches ausreichen sollte, die drei aus den Schlafanzügen zu bekommen, Straßenkleidung anzulegen, bei der kleinen Mia die Windel zu wechseln, ein gemeinsames Frühstück einzunehmen, Zähne zu putzen, klebrige Münder abzuwischen und Schuhe und Jacken anzuziehen.
Aber da ist eine Hundertschaft von Comicfiguren die meine Pläne durchkreuzen, und gehörig am Zeitfenster rütteln.
Fuchs und Löwe auf der Wegwerfwindel fangen damit an. Ich entnehme den Lauten Fus und Löe den Auftrag, die beiden erst einmal zu zeigen, während ich wie ein Löwe brülle, und mir vornehme, im Laufe des Tages zu googeln, welche Töne Füchse von sich geben. Ganz schnell ziehe ich über mein vollbrachtes Werk den Body, auf dem sich im Brustbereich ein Kätzchen zwischen zwei Herzen tummelt.
Kasse, sagt die kleine Mia, und zeigt mit ihren kleinen, dicken Fingern drauf. Miau, rufe ich, und streife einen roten Nickipullover drüber.
KASSE!!
Der Nickipullover wird hochgeschoben und das Kätzchen freigelegt. Ich mache mit einer Hose weiter.
Bume!
Wo ist eine Blume?

Mia weiß das, und zeigt auf den Knopf. Blume und Kätzchen muss ich nun dauerbewundern, was mir mit dem Wunsch nach „Budda“ gelingt abzubrechen. Budda ist Brot, und Essen zieht immer. Ich ziehe ihr ein Lätzchen an.
Nein. Dodo an!

Ich frage Lena nach Dodo, die mit fünf Jahren ganz große Schwester ist, aber immer noch in ihrem Schlafanzug steckt. Wir suchen gemeinsam nach Dodo, einem Lätzchen in Form einer japanischen Comicfigur.
Ich wähne Klein-Mia zufrieden, sie aber schreit Anpanman, bevor ich dem vierjährigen Tobi erklären kann, dass man Mitte September keine kurzen Hosen mehr anzieht. Ehe der sich dagegen wehrt, erklärt er mir, dass Mia den Anpanman-Teller haben möchte, ein Plastikteil mit aufgedrucktem Kinderhelden aus Japan. Das Brot liegt schon demonstrativ auf der Tischplatte, der falsche Teller auf dem Boden.

Lena ist inzwischen nackt und räumt eine Kommodenschublade aus, damit sie sich aus dem Sortiment, was sich über das helle Laminat verteilt, was Passendes aussuchen kann. Zur Hello-Kitty Unterwäsche sucht sie die Socken, die scheinen aber in der Wäsche, was sie nicht tröstet. Ich biete ihr Socken mit der Maus an, dazu gäbe es auch ein Longsleeve-Shirt , was wir gemeinsam suchen, während Mia nach Milch schreit und Tobi heult, weil er seine Jacke nicht findet, die mit dem Plastikmonster am Reißverschluss. Er ist weiterhin in kurzen Hosen und denkt auch nicht daran zu wechseln, weil da Krokodile drauf sind und die beißen das Monster vom Reißverschluss. Ich ziehe ihm eine lange Hose über die Kurze, weil die Krokodile sich verstecken müssen, falls das Monster auch mal die Krokodile beißen will. Mia bekommt Milch von mir, allerdings reihe ich fünf Becher mit den unterschiedlichsten Motiven vor ihr auf, damit ich gleich den richtigen auffülle. Sie wählt den mit dem Frosch, auf den aber erhebt Tobi brüllend Besitzanspruch, den ich aber mit der zwischenzeitlich gefundenen Monster-Reißverschlußjacke beruhigen kann. Das Zeitfenster hat beachtlich an Größe verloren, dafür hat Lena ein Kleid gefunden, womit die Sockenfrage geklärt wäre, allerdings noch eine Strumpfhose aufgetrieben werden muss. Das Suchen muss ich Lena überlassen, weil Tobi jetzt ein Frischkäsebrot mit Himbeermarmelade verlangt. Auch hier möchte ich bei der Tellerwahl nicht scheitern, der verfügbare Stapel scheint mir aber doch zu hoch, um eine Auswahl auf den Tisch zu bringen. Prinzessinnen, Tigerente, Frosch, Kleiner Bär, ganz viel Japanisches, Punkte und Blumen. Er möchte den Frosch, was mir einen kleinen Adrenalinstoß verpasst, weil der Froschbecher doch schon in fremden Händen ist. So schütte ich wortlos Milch in ein Glas mit blauen Punkten. Es geht!
Lena kommt mit der Strumpfhose, die sie nicht alleine anziehen kann, und während ich Bein für Bein zusammenraffe, damit der Kinderfuß flugs einsteigen kann, erklärt sie mir, dass sie kein Brot, sondern Haferflocken mit Joghurt möchte. Das Schalensortiment schlägt die Tellerauswahl um Längen und ich befürchte zusätzlich einen Nachahmeeffekt.

Mehr…! Schon schiebt die kleine Mia ihren Teller von sich und besteht ebenfalls auf Haferflocken. Durchs Zeitfenster fällt nur noch ein Hoffnungsschimmer.
Ich greife durch. Alleine schon der bebilderten Besteckauswahl wegen. Lena bekommt ein Butterbrot in die Hand und Milch aus einem Glas mit grünen Punkten. Ich erfahre schreiend, dass die grünen Punkte Tobi gehören, dabei belasse ich es aber. Es geht jetzt um Schuhe und Jacken, und zwar schnell und meinerseits kampflos. So läuft Mia mit den zu klein gewordenen Sommersandalen los, Tobi besteht auf eine viel zu dünne Regenjacke und Lena nimmt die schmutzige Lieblingsjacke aus dem Wäschekorb.
Die Haare sind nicht gekämmt, die Zähne nicht geputzt, ich hatte kein Frühstück, aber Gott sei Dank noch Tempos in der Tasche, um die klebrigen Münder abzuwischen, bevor ich auf die Klingel am großen Tor drücke und um Einlass bitte. Es ist eine Minute vor neun. Wir sind noch nicht zu spät!

RHABARBERKUCHENWETTER

Der zusammengeknüllte Brief ließ sich nicht mehr so einfach in Stücke reißen, obwohl ihr danach war. Sie hätte überhaupt alles kurz und klein schlagen können, trotz der Junisonne, die nach tagelangem Dauerregen endlich einmal wieder Licht und Schatten in die kleine Küche zauberte. Dieser Scheißkerl (sie nannte ihn seit gut fünf Jahren nur noch Scheißkerl) hatte es mal wieder geschafft, die Unterhaltszahlungen zu kappen. Dieser Scheißkerl hatte mal wieder am Stöpsel gezogen. Sie rutschte mit dem Rücken an der Küchenfront entlang nach unten und war fast dankbar für den Schmerz, den die kantigen Metallgriffe in zwei langgezogenen Spuren hinterließen. Wie einen Schneeball drückte sie das Papier weiter zusammen und schleuderte es durch die offene Tür, die in den lichtlosen, winzigen Flur führte. Das Geschoss traf Mia mitten ins Gesicht, die in diesem Moment mit holprigen Schritten um die Ecke wackelte.

„Mama, … Ball!“ Wenn Mia lachte, sah man ihre unordentlichen Zahnreihen, und die eng zusammenliegenden Augen verschwanden hinter zwei Schlitzen.

„Ein Chromosom zu viel, und auch mir würde alles am Arsch vorbeigehen!“ Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, krabbelte auf Mia zu, zog sie zu sich in den Schneidersitz und tauchte die Nase in ihre dunklen, störrischen Haare. Liebesschnüffeln. Ihr Liebe zu diesem Kind fing an zu wachsen, als die zu ihrer großen Liebe schwand. Die große Liebe machte sich aus dem Staub. Ein Chromosom zu viel war ihm zu viel, als man sie im Krankenhaus über Trisomie 21 aufklärte.

Heute morgen auch noch der Anruf ihrer Mutter! Es klang, als lese sie den Text vom Blatt, ohne einmal Luft zu holen. Es sei Rhabarberkuchenwetter, ob sie nicht mit der Kleinen vorbeikommen wolle. Die Kleine hat einen Namen, und überhaupt, nach fünf Jahren ohne jeglichen Kontakt einfach zum Kaffeetrinken einladen, als hätten alle gerade die paar grauen Regentage überstanden, und nun wolle man gemeinsam die wiederkehrende Sonne genießen! Mia ist fünf Jahre ohne Großeltern ausgekommen. Sie kennt noch nicht einmal ihren Vater! Wenn man etwas nicht kennt, kann man es auch nicht vermissen. Ist wie mit dem Rauchen. Hätten die Indianer Käfer geknabbert, anstatt an Friedenspfeifen zu ziehen, stünde ich nicht zehnmal täglich rauchend und mit schlechtem Gewissen bei Wind und Wetter auf dem Balkon! Auf dem Balkon flatterte die Wäsche an der Leine. Sie stellte Mia wieder auf die Beine, holte sich ihre Zigaretten und den Wäschekorb und ging nach draußen. Den Rauch zog sie bis in die Sackgassen ihrer Lunge hinein. Mit dem Ausatmen ließ sie sich Zeit. Sie schaute dem Dunst hinterher, der sich hinter der Balkonbrüstung auflöste und verschwand. Sie blies einen neuen Dunststreifen in die Luft, an den sich ihr Blick und das Gedankenknäuel hängen konnten und hörte nicht, dass Mia gegen die Scheibe trommelte. Erst als sie weinte, drehte sie sich um. Die Wäsche ließ sie auf der Leine, die Balkontür schlug sie hinter sich zu, die Papierkugel warf sie in den Mülleimer, und die letzten Zigaretten hinterher.

„Mia, wir gehen Straßenbahn fahren!“

Mia saß am Fenster, schaute raus und jauchzte. Die Menschen in der Straßenbahn schauten auf Mia und blickten betroffen. Sie möchte jedes Mal in diese Gesichter schlagen, ihnen die Betroffenheit rausprügeln, Normalität verpassen. Bei ihrem Vater hatte sie das nie versucht. Den gab sie einfach auf, weil sie nicht einmal im Stande war, richtige Kinder zur Welt zu bringen. Um ihre Mutter hat sie nicht gekämpft, denn dann wäre ihr Vater ohne Schatten zurückgeblieben. Sie fuhren am Schuhhaus Wöhrl vorbei, am Eiscafe Venezia, am Reformhaus (im Fenster stand immer noch die vergilbte Pappreklame für die Gesundheitslatschen), Blume 2000, die Apotheke von Svens Vater (Sven, der ewig Klassenbeste, aber nur ein Meter fünfundsechzig und klapperdürr), die Sparkasse, der kleine Park und dann kam ihre alte Schule. Es hatte sich nicht viel verändert, alles war noch an seinem Platz, reihte sich unangetastet aneinander. Sie stieg schon an der Kirche aus, obwohl sie hätte weiterfahren können, und redete sich das schöne Wetter ein, und den Vorteil von einem bisschen frische Luft. Die würde es auch gleich im Garten geben, zum Rhabarberkuchen und zu den Eltern. Im Mund zog sich alles zusammen und rutschte bis in den Brustkorb hinein. Sie schob es auf den Gedanken an den Rhabarber. Wenn Mutter ihr damals Zucker in die kleine, meist dreckige Hand schüttete, damit sie in den Garten rennen konnte, um eine Rhabarberstange abzureißen, die sie dann Biss für Biss in den Zucker drücken würde, sprudelte es schon wie ein Springbrunnen auf dem Weg zu den großblättrigen Büscheln in ihrem Mund, und sie musste das Gesicht verziehen. Mia trödelte. Sie ließ Mia trödeln. Mia hob ein zerdrücktes Trinktütchen auf, pflückte Blüten von einem überhängenden Spierstrauch, starrte auf den Hund, der Kacka machte, schaute dem Jungen mit dem Laufrad hinterher, wollte vom Bäcker Kuchen.

„Kuchen gibt es bei Oma.“

„Oma.“

Gleich würden sie bei Oma sein. Sie nahm Mia an der schwitzigen Hand, bevor ihre Entschlossenheit sich auflöste wie Kondensstreifen am wolkenlosen Himmel. Die akkurat geschnittene Buchshecke war gewachsen, über der Klingel begrüßte noch immer eine dreiköpfige, in Ton modellierte Familie lachend den Besucher.

„Frederike … du … !“

Sie erschrak. Wie alt war Mutter geworden! Nicht nur wegen der grauen Haare.

„Ja, … ich …“

„Ich dachte du … “

„Dachte ich auch …“

Jetzt fiel ihr Blick auf Mia, die den Kopf weit nach hinten gebeugt hatte und lachte. Den Blick zu halten, fiel ihr sichtlich schwer, aber sie hielt ihn, wie bei Irene aus dem Kirchenchor, der die halbe Nase fehlte. Und doch war es anders. Sie schämte sich. Es war die Scham, fünf lange Jahre lang nicht in dieses kleine, plattgedrückte Gesicht geschaut zu haben. Mit derselben Regung versuchte sie Frederike zu umarmen, die sich in diesem Moment zu Mia beugte.

„Das ist Oma.“

„Oma hat Kuchen?“

„Aber natürlich hat Oma Kuchen!“ übereifrig drückte sich Frederikes Mutter mit einem aufgesetzten Lachen gegen die geöffnete Haustür.

„Aber kommt doch erst mal rein!“

Drinnen war es wie am Streckenabschnitt mit der Einundzwanziger Straßenbahn. Alles unverändert. Selbst der Geruch aus Möbelpolitur und Küchendünsten hatte noch keine Möglichkeit gehabt sich aufzulösen. Frederike wäre gerne umgekehrt, nicht alles von vorne, dachte sie, aber Mia war schon durch Flur und Wohnzimmer auf die Terrasse gerannt. Auf der Terrasse beschattete eine blau-weiße Markise einen gedeckten Kaffeetisch. Die Markise war neu, die Teller und Tassen bekannt.

„Für vier …? Dachtest du nicht …“

„Ich hatte es mir gewünscht … ganz stark gewünscht!“ Sie strich Mia über den Kopf und ließ ihre Hand liegen, als Frederikes Vater um die Ecke kam. Die Einmeterzweiundneunzig schienen ein bisschen gebeugt, was nicht nur an der ausgefahrenen Markise lag, die einen aufrechten Gang nicht zugelassen hätte. Niemand sprach. Nur die Vögel waren zu hören und das Flattern des blau weiß gestreiften Volants im Wind.

„Das ist Opa!“ sagte Frederikes Mutter zu Mia und irgendwie auch zu ihrem Mann. Der ging auf Frederike zu und sagte „Hallo!“

„Hallo ist ein bisschen wenig Papa, nach so langer Zeit!“

Bevor sie den Satz beendet hatte, ärgerte sie sich über den gemachten Vorwurf. Jetzt musste der Gegenschlag kommen, und dem war sie schon immer unterlegen. Aber da kam nichts. „Ein Hallo ist doch schon mal was für einen Neuanfang, meinst du nicht?“

Frederike schaute auf ihre Füße.

„Ein Neuanfang?“ Auch über diese Frage ärgerte sie sich. Warum war sie denn sonst hier? Oder doch nicht?

„Möchtest du Kaffee oder Tee?“ Frederike konnten sich nicht erinnern, dass sich ihr Vater jemals um solche Belange gekümmert hatte. Die Antwort Tee ließ auf sich warten. Ein bedrückender Moment, dem Erlösung geboten wurde, als die Eltern in die Küche eilten, um Wasser zum Kochen zu bringen, Kaffee aufzubrühen und Teebeutel in die Kanne zu hängen. Als alle am Tisch saßen, war es Mias Anwesenheit, die von all dem ablenkte, was die letzten fünf Jahre hinterlassen hatten.

„Oma heiß!“

Es wurde in den Kakao geblasen, ein Lätzchen umgebunden, der Kuchen zerkleinert und Kissen untergeschoben. Es wurde gefragt, ob es schmeckt, ob sie hoch genug sitzt, ob sie auch Sahne wolle und ob sie überhaupt schon einmal Rhabarberkuchen gegessen habe. Mia sagte immer ja, nur als Oma ihr ein zweites Stück anbieten wollte, sagte sie nein, rutschte vom Stuhl und rannte in den Garten. Frederikes Vater trank den letzten Schluck Kaffee aus, stellte die Tasse langsam und geräuschlos auf die Untertasse zurück, wischte mit der frühlingsbunten Papierserviette flüchtig über die Lippen und erhob sich von seinem Stuhl. Den schob er mit einem kurzen Zögern an den Tisch zurück.

„Ich werde mal nach ihr schauen.“

„Er leidet“, Frederikes Mutter legte ihre Hand auf die ihrer Tochter und spürte den Ansatz des Rückzugs, aber auch den Willen zu bleiben.

„Wisst ihr, wie ich leide, … wie lange ich schon leide?“

„ Dein Vater ist ein ganz anderer Mensch geworden, seit er nicht mehr im Berufsleben steht. Er bedauert sein Verhalten von damals, glaube mir!“

„Back to the roots, wo man ihm jetzt die Krone gekappt hat? Das ist mir zu einfach!“ Frederike schob ihren Teller mit dem Kuchenrest von sich weg.

„Es ist auch nicht einfach, … für ihn ist es nicht einfach, die Situation anzusprechen.“

„In seinem so erfolgreichen Berufsleben hat er doch auch alles angesprochen. Auf den Tisch hat er gehauen, Meinungen gegeigt, Bescheid gestoßen, kein Federlesen gemacht!“ „Frederike, er ist jetzt achtundsechzig, fast neunundsechzig…“

„Was willst du damit sagen, soll ich ihm einen Alterbonus einräumen? Stand mir damals wohl noch nicht zu, war offensichtlich noch zu jung!“

„Nein Frederike, ich will damit sagen, dass er seit fast vier Jahren nicht mehr auf den Tisch haut. Er kümmert sich mit Leidenschaft um den Garten und denkt dabei viel nach. Es war sein Vorschlag, dass ich mich bei dir melde. Er konnte es nicht. Er schämt sich so. Ich schäme mich auch, ich kann dir gar nicht sagen wie. Vor allem, weil ich nie die Kraft hatte, mich gegen ihn aufzulehnen.“

Es war wieder nur das Flattern des Volants der Markise, das das Schweigen vertonte. Frederike wollte auch nichts mehr sagen, wollte das bisher Gesagte so stehen lassen, selber nachdenken, auch ohne Garten. Sie würde sich Zeit dafür nehmen. In Geduld war sie gut. Sie zog ihre Hand unter der ihrer Mutter hervor, verharrte einen kurzen Moment und legte dann die ihre auf die der Mutter.

„Ich nehme die Achzehnzwanziger.“

Frederike erhob sich von ihrem Stuhl und ihre Mutter griff mit beiden Händen nach der Hand, deren Wärme sie gerade noch gespürt hatte.

„Ihr kommt doch wieder?“

Dem ängstlichen Blick wich Frederike aus und schaute in den Garten, um Mia auszumachen. Die stand mit ihrem neuen Opa hinten beim Rhabarber. Sie hatte Zucker in ihrer kleinen Hand mit den kurzen, dicken Fingern und der Opa zeigte ihr, wie man die Rhabarberstange reinstupst.

„Mia, komm Straßenbahn fahren!“, Frederike ging auf dem mit Platten belegten Gartenweg, ohne auf eine Fuge zu treten. Das hatte sie als Kind immer gemacht. Sie musste fehlerfrei die Strecke hinter sich bringen, sonst drohte ihr Schlimmes. Dazu hatte sie sich damals immer neue Grausamkeiten ausgedacht. Die mussten sich aber nie bewahrheiten, weil sie niemals Fehler machte. Wenn ich drauftrete, war mein Besuch heute umsonst!

„Bald sind die Johannisbeeren reif“, sagte ihr Vater und drehte seinen Kopf zu den Büschen mit den noch blassroten Beeren.

„Ich glaube, die schmecken Mia auch!“