22. Mrz. 2020
Die Hitze hatte nun auch das Schlafzimmer erreicht. Ein fensterloser Raum, in dem das Tageslicht keinen Zutritt hatte, es aber auch den unerträglichen Temperaturen bisweilen schwer gemacht wurde, einzudringen. Clara saß auf der Bettkannte und wollte daran glauben, dass die Abwesenheit von Licht Kühle hinterlassen könnte. Im Mietvertrag wurde von einem halben Zimmer gesprochen, eine rein rechtliche Angelegenheit, da es keinen Blick nach draußen gab. Dreiundvierzig Quadratmeter für vierhundertsechzig Euro kalt. Mehr wollte sich Clara nicht leisten. Eine Übergangslösung ohne an Zukunft zu denken, nachdem das Zusammenleben mit Leo ein ‒ zumindest für sie ‒ unfreiwilliges Ende genommen hatte.
Dass es keinen Blick nach draußen gab, störte Clara momentan wenig. An Draußen mochte sie gar nicht denken, denn seit vier Wochen brannte die Sonne gnadenlos vom Himmel und heizte die Stadt ein. Der Schweiß rann in Bächen an ihrem Rücken herunter, das dünne Sommerkleid mit dem großen Blumenmuster klebte auf der Haut. Apathisch starrte sie auf die restlichen Umzugskartons, die noch dort herumstanden, wo sie sie vor gut einem Jahr abgestellt hatte. Bisweilen vermisste sie den Inhalt nicht, Leo allerdings vermisste sie immer noch. Der wird sie mittlerweile vergessen haben, die Frau, die für eine Physikerin viel zu sexy sei, wie er sagte, die das Zeug zum Model hätte, wenn sie denn über die richtige Größe verfügen würde. Leo, der Optimierungsfanatiker, der als frischgebackener Volljurist sofort eine Anstellung bei einer Großkanzlei bekam. Leo, der es liebte, Lücken zu finden. Nicht nur in Gesetzen. Und Leo fand Anne. Und Anne war groß.
Frischer Wind für Ihr Zuhause
In blauen Lettern diagonal aufgedruckt. Der gehörte nicht zu ihren Kartons, stand eingeklemmt in der unteren Reihe und war ihr bisher gar nicht mehr aufgefallen. Clara musste allerdings nicht lange grübeln, erinnerte sich an das Umzugschaos vor einem guten Jahr und an den Mann in der gelb-roten Jacke von DHL. Der Nachbar von oben sei nicht da, ob sie … Clara wollte nicht diskutieren und krakelte ihren Namen auf das verkratzte Display. Warum hat der Nachbar das Paket nie abgeholt? Würde es nach so langer Zeit überhaupt noch abgeholt werden?
Frischer Wind für Ihr Zuhause
Den konnte sie gebrauchen. Generell. Sie barg ihr schweißnasses Gesicht in beiden Händen. Gibt es in solchen Fällen eine Verjährung? Gehört das Paket möglicherweise schon mir? Leo könnte ihr die Frage sicherlich beantworten. Leo. Der Weltschmerz legte sich über die offene Frage und gerne hätte sie jetzt mit Cordula telefoniert, aber die befand sich gerade konsequent offline zur Sommerfrische an der Ostsee. Cordula hätte die rechten Worte des Trostes gefunden, war damals die Klassenbeste in Deutsch, erkannte aber keinen Sinn darin, den freien Fall einer Handtasche von einem dreiundvierzig Meter hohen Turm mittels Diagramm und Gleichung zu bestimmen. Clara dagegen kümmerte sich mit Leidenschaft um die Berechnung der Geschwindigkeit und Beschleunigung in Abhängigkeit der Zeit. Sie waren die Gegensätze, die sich anzogen. Bis heute. Zum Schweiß gesellten sich Tränen und als auch noch die Nase anfing zu laufen, schnäuzte sie in den feuchten Rock ihres Sommerkleides und rutschte auf Knien auf das Paket zu.
Dr. Elias Machold
Sie hatte nie aufs Klingelschild geschaut, überhaupt kannte sie kaum jemanden in diesem Mehrfamilienhaus. Ein Doktor, dachte sie, einer, der auch nicht viel Geld für die Miete aufbringen möchte. Clara versuchte den Anfang des Klebebands zu erwischen, aber mit den verschwitzten Fingern funktionierte das nicht. Erst als sie das Küchenmesser einsetzte, klappte es und sie erkannte gleich, nachdem sie das Styropor entfernt hatte, dass es ein Ventilator war. Sie freute sich so sehr darüber, dass die Besitzerfrage zur Nebensache wurde. Vier Geschwindigkeitsstufen, den Schwenkmodus stellte sie aus und verharrte mit geschlossenen Augen in dem erlösenden Luftstrom.
Es dauerte, bis sie das Klingeln bemerkte. Unwillig erhob sie sich von ihrem Bett und schlurfte zur Haustür. Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um mehr zu sehen, als eine kakifarbenen Shorts über deren Bund ein ungebügeltes T-Shirt hing. Weiter oben sah sie die Hand, die mit einem Zettel winkte und dann kamen die dunklen Locken und ein sympathisches Lächeln im braungebrannten Gesicht.
„Muss hier abgegeben worden sein für … Entschuldigung, Elias Machold aus dem Dritten … allerdings vor einem Jahr!“ Aus dem Lächeln wurde ein Lachen.
„Zwölf Monate Afrika. Ärzte ohne Grenzen.“ Vor zwölf Monaten hätte die Luft genauso gestanden wie heute. Bevor der bestellte Ventilator kam, sei er schon weggewesen. Ein kurzfristiger Abruf von langer Dauer.
Clara wollte ihm erklären, dass Luft nicht wirklich steht, wegen der Moleküle, die immer in Bewegung sind, hätte aber nicht viel geholfen, sich vor einem Geständnis zu drücken. Rückwärts trippelte sie in ihre Wohnung zurück und hatte nichts dagegen, dass der Nachbar aus dem Dritten folgte. Bis ins halbe Zimmer folgte er ihr, in dem der Ventilator summte und Clara zeigte auf das verstreute Verpackungsmaterial.
»Gerade erst ausgepackt, ich dachte an Verjährung.«
Das Lachen vom Doktor war ansteckend und Clara hatte das Gefühl, überhaupt von ihm infiziert worden zu sein. Eine Blitzinfektion, die die Symptome des schlechten Gewissens aus dem Weg geräumt hatten. Sie stand im Luftstrom, der gegen die aufsteigende Hitze von innen nichts ausrichten konnte und der Nachbar aus dem Dritten schaute auf die teils verzerrten, großen Blumen, unter denen sich Claras Körperformen abzeichneten.
»Ich bin zwar kein Jurist, aber ich glaube, Eigentum bleibt immer Eigentum, es sei denn es verpflichtet. In diesem Fall habe ich allerdings das Gefühl, dass es hier in die Pflicht genommen werden sollte.“ Er stellte sich neben Clara in den kühlenden Luftstrom und Clara war froh, dass er kein Jurist war.
»Kommt bei Ihnen oben überhaupt was an?«
»Elias ist schon ok. Und nein, oben kommt nichts an.«
»Dann lass uns setzen.« Sie zeigte auf das Bett im Rücken. »Ich bin Clara.«
Ohne sich anzuschauen saßen sie da, den Blick auf den Ventilator gerichtet. Der Großteil der Luft blies zwischen den beiden hindurch, aber keiner dachte ans Zusammenrücken und so war es der Schwenkmodus, der es möglich machte, den Abstand aufrechtzuerhalten.
»Ein ganzes Jahr lang verbrachte dein Paket zwischen meinen Kisten.«
»Und deine Kisten? Stehen die aus Solidarität hier noch rum?«
Der Ventilator bewegte sich hin und her, wie die Köpfe der Zuschauer bei einem Tennismatch. Die Köpfe der beiden blieben starr nach vorne gerichtet, während Clara anfing, von ihren Kisten zu erzählen. Sie hörte gar nicht auf, redete immer noch, als schon der Lichtstreifen verschwand, der vom kleinen Flur ins halbe Zimmer fiel.
»Und du? Wie schaut dein Leben aus?«
Unabgesprochen drehten sie sich die Gesichter zu und unabgesprochen rückten sie im Schutz der Dunkelheit näher zusammen und wieder ganz ohne Absprache fanden sich die Lippen und Clara musste sich gedulden, etwas über Elias‘ Leben zu erfahren.
Clara war geduldig. Sehr sogar. Die Ganze Nacht war sie geduldig und erst, als sie vom Schnurren des Ventilators geweckt wurde, fragte sie: »Und dein Leben? Wie schaut dein Leben aus?«
Das war ein bewegtes Leben mit kurzen Unterbrechungen, eins, dem gerade eine Unterbrechung zustand, eins, das in drei Monaten in Asien seinen Einsatz finden würde.
Clara drehte sich weg und zog das Leintuch über ihren nackten Körper.
»Hey, ich bin doch noch nicht aus der Welt!« Elias rüttelte sanft an ihrer Schulter und Clara zog sich das Leintuch über den Kopf.
»Jetzt bin ich erstmal im Dritten. Du weißt ja, wo du klingeln musst.« Er zog sich an und dann die Tür hinter sich zu.
Clara klingelte eine Woche lang nicht. Warum auch. Asien lag ja nicht um die Ecke. Als es anfing zu regnen, klingelte sie. Wegen der Nachricht im Briefkasten. Den Ventilator darfst du behalten. Elias Eine Handschrift wie sein Lächeln. Clara klingelte mit dem Ventilator unterm Arm. »Ich mag ihn nicht behalten,« sagte sie »vielleicht kannst du ihn in Asien gut gebrauchen.«
»Würdest du mitkommen?«
»Nach Asien? Spinnst du?«
»Gepackt hast du doch schon.« Er grinste.
»Ich kenne dich doch kaum …«
»Ich dich auch nicht. Eine Woche kein Klingelzeichen, … ich glaube, wir haben beide gelitten.«
»Und was soll ich dort machen?«
»Die Dinge fügen sich, du solltest gar nicht darüber nachdenken.«
Als Physikerin glaubte Clara nicht an Fügung, trotzdem nahm sie seine ausgestreckte Hand und kurze Zeit später halfen auch keine Formeln mehr.
Elias hatte Recht. Gepackt hatte sie ja schon.
24. Dez. 2017
Von der Raststätte Hockenheimring Ost bis über die Ausfahrt Speyer hinaus sprachen wir kein Wort. Das waren vierzehn Minuten. Ich wollte ihm gerade erklären, dass Karl nie über Speyer hinausgefahren sei wegen seiner Stammtankstelle in Günzburg an der Ulmerstrasse (wir befahren seit über dreißig Jahren ausschließlich den Radius einer halben Tankfüllung), als er mich fragte, ob ich auch eine Zigarette wolle. Das R rollte dabei ganz fremd. Ich lachte etwas erschrocken und schlug mir die Hände vor den Mund, als ich ihm sagte, dass ich gar nicht rauche. Er aber fummelte sich ungeniert eine Zigarette aus der Brusttasche seines mit Tigern gemusterten Hemdes und zündete sie an. Ich sagte ihm, dass in Karls Auto noch nie geraucht wurde, und er sagte mir, dass ihm das scheißegal sei. Die erste Asche schnippte er auf die Mittelkonsole.
Ich spürte einen Anflug von Protestbereitschaft, den ich unterdrückte, so wie ich auch wortlos hinnahm, als er vor vierzehn Minuten an der Raststätte bei mir einstieg. Einfach so. Karl war nur mal zur Toilette gegangen. Der Schlüssel steckte. Und plötzlich saß der Tigermann neben mir. Drehte den Schlüssel um und fuhr los. Ich schrie nicht. Ich schimpfte nicht. Ich heulte nicht. Ich hatte keinen Funken Angst. Wenn ich überhaupt ein Gefühl hatte. Ich saß stumm neben ihm. Bis zu dem Zeitpunkt mit der Zigarette.
Wo er denn überhaupt hinwolle, fragte ich und rutschte in eine bequemere Sitzhaltung. Das ginge mich gar nichts an, aber auf jeden Fall einfach nur weg.
Und was mit mir passieren solle, fragte ich. Der Tigermann zuckte mit den Schultern, öffnete das Fenster und schnippte die ausgerauchte Zigarette in den Fahrtwind. Ich war mir erst nicht ganz sicher, aber dann drehte ich mich doch um und sah, dass der glühende Stummel auf Karls Mantel lag.
Karl. Ohne Mantel und ohne Auto.
Was er wohl dachte, als er feststellen musste, dass wir beide nicht mehr da waren? Das Auto und seine Frau.
Er müsse mal langsamer fahren, sagte ich zum Tigermann, seine Zigarette brenne gerade ein Loch in Karls Mantel, und das müsse ich ersticken.
Ich öffnete den Gurt und drückte mich zwischen den beiden Sitzen nach hinten. Dabei berührte ich den Tigermann, was auf Grund meiner Leibesfülle nicht zu umgehen war. Ich spürte seine Körperwärme. Ein schweißgesättigter Dunst, der mich wie gebannt verharren ließ, bis er mich fragte, ob ich nun ihn oder den Brandherd ersticken wolle.
Mit meiner Handtasche (Karls Geschenk zum Fünfzigsten) schlug ich auf die schwelende Stelle, bis ich nichts mehr aufglimmen sah.
Ob er keinen Mantel habe, fragte ich ihn. Jetzt sei doch Winter. Mit der zweiten Zigarette zwischen den Lippen nuschelte er ein Doch. Aber nicht hier.
Ich heiße Rita, sagte ich ihm, nachdem ich wieder angeschnallt an seiner Seite saß.
Rasvan.
Das R rollte mehr als bei „Zigarette“.
Aus welchem Land er denn käme, das R klänge so nach Balkan.
Rrrromania … rollte es aus seinem Mund. Da hatte ich also recht. Schade, dass Karl das nicht mitbekommen konnte!
Eigentlich müssten wir jetzt in Speyer bei Karls Schwester Waltraud sein, sagte ich ihm. Sie sei Donnerstag 70 geworden. Die Feier wäre aber auf das Wochenende verlegt worden. Im Kofferraum sei ein Frankfurter Kranz. Karls Lieblingskuchen. Für Waltraud müsse ich jedes Jahr Karls Lieblingskuchen backen, erklärte ich Rasvan aus Rumänien. Dann schaute ich verträumt in eine schmutzige Winterlandschaft, die schon ein gutes Stück hinter Speyer lag.
Ich fühlte mich so wohl dabei, und das konnte nicht nur daran liegen, dass Waltraud mir nicht wie jedes Jahr ihre Krampfadern zeigen konnte.
Der aufheulende Motor war es, der mich aufschreckt. Ich kippte nach links und prallte gegen Rasvan.
So schnell sei Karl noch nie gefahren, sagte ich ihm und klammerte mich am Armaturenbrett fest.
Dann erst hörte ich Karls Handy. Gedämpfte Martinshorntöne kamen aus seinem angesengten Mantel.
Ob er bitte langsamer fahren könne, bat ich ihn, ich müsse das Handy von der Rückbank holen.
Bestimmt Karl, sagte ich ihm. Karl rufe bei sich an. Ich lachte.
Den „Bullen-Klingelton“ fand Rasvan verfickt, das Handy riss er mir aus der Hand, der Rest war rumänisch. Dann zündete er sich wieder eine Zigarette an.
Karl habe bestimmt mit mir sprechen wollen. Er könne sich doch gar nicht vorstellen, was passiert sei.
Ich solle endlich mit diesem Karl aufhören, der ginge ihm langsam auf den Sack, und jetzt brauche er ein Bier und Zigaretten.
Wir fuhren auf die Raststätte Wonnegau bei Worms.
Ich solle mit ihm gehen und die Schnauze halten. Aber was hätte ich denn auch sagen wollen.
Karl würde nie Alkohol trinken, wenn er Auto fahre.
Noch einmal KARL und ich sei draußen.
Dabei waren wir noch gar nicht wieder drin, und ich fragte ihn, ob er ein Stück vom Frankfurter Kranz wolle.
Rasvan stand im Tigerhemd in der Kälte, trank Bier aus der Dose und rauchte.
Ich solle mal zeigen. Also machte ich den Kofferraum auf und hob den Deckel vom Tortenwunder.
Der Frankfurter Kranz habe nicht den geringsten Schaden genommen, sagte ich stolz, trotz der Raserei. Alle kandierten Kirschen befänden sich noch an Ort und Stelle.
Das war ihm wieder scheißegal, ich solle ihm einfach ein Stück geben.
Das dauerte ihm dann wohl zu lange, weil ich nicht wusste, wie ich das ohne Messer machen sollte. Er griff kurzerhand in den Kuchen und brach sich ein Stück heraus. Eine kandierte Kirsche rollte auf Karls Autodecke.
Ich war erst etwas beleidigt, weil ich mir doch solche Mühe gegeben hatte. Aber dann brach ich mir auch ein Stück heraus. Wir gruben unsere Finger abwechselnd in den ruinierten Geburtstagskuchen. Der Krokant machte knackende Geräusche zwischen den Zähnen. Die Hände waren buttercremeverschmiert.
Gut, sagte Rasvan.
Ich schwebte. Von dieser Leichtigkeit ließ ich mich ins Auto zurücktragen und sie half mir zu ignorierte, dass Rasvan seine klebrigen Hände im Autositz abwischte. Die meinen leckte ich ab und rieb mit einem Erfrischungstuch aus dem Handschuhfach hinterher. Erst dann griff ich nach dem Gurt. Dessen Unversehrtheit war mir offensichtlich immer noch wichtiger, als meine Sicherheit. Wir befanden uns schon längst wieder im fließenden Wochenendverkehr, während ich die optimale Gurtlänge zurecht zog und am Verschluss fummelte.
Ich sei einfach zu dick, ob er das auch so sehe.
Das sei ihm egal.
Dass es ihm nicht scheißegal war, ließ mich weiterschweben. Karl war das auch egal. Aber eben anders. Karl waren unpünktliche Mahlzeiten nicht egal.
Rasvan rauchte. Ich schaute ins Neuland, was mich allerdings flach und langweilig etwas enttäuschte.
Einige Felder lagen unter weißer Plastikfolie.
Spargel.
Spargel mit Kochschinken, Pellkartoffeln und Buttersoße . Keine Experimente, sagte Karl jedes Jahr.
Für mich fing das Jahr immer mit dem Spargel an. Von da an wiederholte sich alles.
Ob er weißen Spargel möge, fragte ich Rasvan.
Fleisch, … er zeigte auf den LKW der vor uns fuhr und Schweine geladen hatte.
Am Sonntag!
Vorsicht lebende Tiere war auf einem Schild zu lesen. Das verstand ich nicht, wo man doch auf dem Weg zum Schlachthof war.
Ich würde Spargel gerne einmal anders kochen, sagte ich Rasvan.
Dann mach doch…
Ob ich eine Zigarette dürfe, … ich überraschte mich selbst. Rasvan lachte und warf mir die Packung auf den Schoß.
Ich zündete sie etwas ungeschickt mit dem Zigarettenanzünder an. Sie schmeckte scheußlich, und der Rauch brannte auf der Zunge.
Ich müsse tief einatmen, sagte Rasvan, nahm sich auch eine und machte einen kräftigen Zug. Die Glut an der Spitze leuchtete auf.
Ich tat, was Rasvan sagte. Der Husten wollte gar nicht aufhören.
Karls Duftbäumchen pendelte im Dunst am Rückspiegel.
Wie es mit Geld sei, fragte Rasvan. Wegen Tanken.
Wie weit er denn noch fahren wolle. Ich rauchte tapfer weiter.
In Koblenz wohne Monika.
Ein giftgrünes Banner zwischen zwei entlaubten Birken gespannt forderte eine Grünbrücke für Wildtiere.
Ob man mehr Rücksicht auf mich nehmen würde, wenn ich ein Tier wäre …?
Geld, … oh, da müsse ich nachschauen. Ich jedenfalls hätte nur wenig im Portemonnaie. Aber Karl vielleicht …
Ich drückte meine Zigarette in den Aschenbecher und zog den Mantel vom Rücksitz. Da steckte tatsächlich seine Brieftasche drin. Karls Brieftasche in meinen Händen! Mir war nach einer zweiten Zigarette.
95 Euro, sagte ich, das wäre zu wenig.
Das reiche zum Tanken.
Ich aber wollte mehr.
Wir sollten nach Koblenz fahren, sagte ich zu Rasvan. Dort gäbe es sicherlich eine Sparkasse und Monika wohne in Koblenz. Eine Cousine.
Die Geheimzahl für die Automatenkarte sei im Handy als Telefonnummer gespeichert. Rasvan schaute mich kurz von der Seite an und verzog die linke Mundhälfte zu einem Lächeln. Ich nahm zufrieden eine aufrechte Haltung an.
Bitte nehmen Sie die Ausfahrt, verkündigte ich mit abgehackter Navigatorenstimme kurz vor der Abfahrt nach Koblenz Metternich.
Rasvan tat, was ich ihm sagte.
1000 Euro konnten wir abheben. Ich gab ihm die Hälfte, und dann war er auch schon weg. Ich wollte ihm noch hinterher rufen, dass er Karls Mantel behalten könne, aber das hätte er bestimmt nicht mehr gehört.
Zu Monika nahm ich ein Taxi.
Dienstag klingelte Karls Handy das auf dem Nachtschränkchen in Monikas Gästezimmer lag. Es war die Polizei aus Günzburg. Karls Auto habe man in Antwerpen gefunden.
In Antwerpen war ich noch nie. Antwerpen klingt gut. Vielleicht fahre ich nächste Woche mit Monika mal hin.
21. Dez. 2017
Die Glasplatte des winzigen Tisches klebte ein wenig. Deutlich konnte sie die beiden kreisrunden Spuren der letzten Eisbecher sehen. Man würde sie wegwischen. Es war jetzt ihr Tisch. Sie schaute sich um. Sie war nicht die Einzige, und sie hoffte, man würde wahrnehmen, dass auch sie in diesem Eiscafe saß.
Als Kind bemühte sie sich gar nicht, an solch eine Möglichkeit zu denken. Sie sehnte sich ja auch nicht danach, auf dem Mond Murmeln zu spielen. Es kam selten vor, dass die Eltern den Kindern ein Eis versprechen konnten. Dann aber stürmte sie mit den Geschwistern den gläsernen Tresen. Sie standen auf Zehenspitzen oder zogen sich hoch und starrten auf die zahlreichen Sorten, die eine Entscheidung abverlangten. Eine wohlüberlegte. Niemand wollte leichtfertig handeln. Eine Kugel Glück gab es nicht alle Tage. „Wenn ich groß bin und Geld verdiene, dann bestelle ich mir einen Schwarzwaldbecher!“
270 DM monatlich gab es im ersten Lehrjahr. Zahltag war gestern. Gefeiert wurde heute. „Haben Sie schon gewählt?“ Die Serviererin hob kurz ihre kleine weiße Schürze, stopfte ihre Geldbörse in das darunterliegende schwarze Schürzchen und strich mit beiden Händen alles wieder glatt.
„Nein, … ich habe noch gar nicht reingeschaut.“ Sie nahm die bunte Eiskarte aus dem Ständer. Die Ecken waren lappig und ausgefranst, aber die Fotos weiterhin vielversprechend. In schnörkeligen Glaskelchen türmten sich Eiskugeln, dazwischen verkeilten sich Fruchtstückchen oder bahnte sich dickflüssige Schokoladen- oder Himbeersoße ihren Weg. Sahnehauben thronten mächtig weit über den Glasrand hinaus. Krokantstreusel oder Schokospäne sprenkelten das cremige Weiß, dicke klebrige Maraschinokirschen drohten darin zu versinken. Zur Krönung gab es bunte Papierschirmchen oder gestreifte Waffelröllchen. Automatisch fing sie an die Zunge gegen den Gaumen zu drücken und hin und her zu bewegen. Dann schluckte sie. Der Schwarzwaldbecher! Drei Kugeln Schokoladeneis, Sauerkirschen, Kirschlikör, Sahne. 5,20 DM
„Was darf ich Ihnen bringen?“ Die Bedienung drehte den Kopf in ihre Richtung während sie den Nachbartisch abräumte. „Hm, … “ Unentschlossenheit schien der jungen Frau nicht neu, ohne eine Antwort abzuwarten balancierte sie mit einem Schwung die leer gekratzten Eispokale in Richtung Theke.
Fünfmarkzwanzig.
Das eigene Geld fühlte sich an wie ein gutes Stück Freiheit. Wahlfreiheit. Nicht nur der Schwarzwaldbecher, alles von der Eiskarte war möglich. Sie musste nur entscheiden. Rauf und runter schickte sie ihren Blick, und als würde die Lösung in der Ferne liegen, schaute sie zum Fenster hin.
Am Fenster saß ein Ehepaar mittleren Alters. Die Tüten vom Einkauf standen zu ihren Füßen. Es waren viele Tüten. Die Stärkung im Eiscafe hatten sie sich offensichtlich verdient. Mit akrobatisch anmutenden Bewegungen platzierte die Serviererin die Traumkreationen vor die zufrieden lächelnden Gäste.
Unverkennbar. Früchte Spezial und Krokantbecher. Zusammen Zehnmarkachtzig. Zehnmarkachtzig … Schnell versenkte sie ihren Blick wieder in der Eiskarte, als könne sie darin verschwinden, unsichtbar werden und nicht mehr ansprechbar sein. „Sie sind mittlerweile fündig geworden?“ Sie zuckte zusammen, blieb tonlos weiterhin im aufgeklappten Hochglanzangebot versteckt und wünschte sich mit fest geschlossenen Augen nichts sehnlicher als ein Dahinschwinden von Bedienung und Nachfrage. Sie zählte bis zehn und spürte tatsächlich die Abwesenheit im Rücken. Dann zählte sie die Kugeln, die sie zum Preis des Schwarzwaldbechers am Straßenverkauf bekommen würde. Sie klappte die Eiskarte zu, steckte sie in den Ständer zurück, erhob sich vom Tischchen, was immer noch klebte, und verließ mit gesenktem Kopf und schnellem Schritt das kleine Lokal, um sich draußen in der Schlange einzureihen.